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3. Dezember 2021

Das etwas andere Weihnachtsfest

Kurzgeschichte von Marlis David

Staunend sitze ich im Bett und betrachte die dicken Eisblumen am Fenster. Keine gleicht der anderen. Die bizarren Gebilde regen meine Fantasie an.
Wohlig kuschele ich mich wieder unter meine Bettdecke. Am Fußende ertaste ich einen kalten Ziegelstein, den Mutter mir am gestrigen Abend angewärmt an die Füße gelegt hat.
Der Winter 1947/48 ist bitterkalt und unsere Dreizimmerwohnung kann nur vom Kohleherd in der Küche beheizt werden. Dicke Rohre führen von der Küche über den Flur ins Wohnzimmer. Es ist dadurch etwas überschlagen, aber nicht warm.

In der Küche höre ich Mutter hantieren. Sie versucht den Herd anzuheizen, damit es nicht so eisig ist, wenn wir aufstehen. Mein Bruder hat sich die Bettdecke bis zur Nasenspitze gezogen, er schläft noch tief und fest.
Ich verstecke meine Arme schnell wieder unter der Bettdecke und schaue wieder fasziniert zu den Eisblumen. Jetzt sehe ich Figuren und Blumen, Sterne und Tiere. Schnell springe ich aus dem Bett, laufe zum Fenster, hauche mehrmals dagegen und kratze mit dem Fingernagel an der Eisschicht. Durch das entstandene Loch erhasche ich einen kurzen Blick auf den frühen Tag.

Jetzt rieche ich den Duft von Muckefuck, Mutters Ersatzkaffee, der durch die Wohnung zieht.
Heute ist der Tag vor dem Heiligabend und Mutter hat versprochen noch Plätzchen zu backen. Darauf freue ich mich schon riesig.
In den letzten Tagen hat sie geheimnisvolle Aktivitäten an den Tag gelegt. Der Kleiderschrank im Schlafzimmer wurde stetig auf- und zugeschlossen. Mein Bruder, dieser Meisterdetektiv, knackt jedes Schloss. Seine nicht zu zähmende Neugier hat uns jede Überraschung genommen … dieser Blödmann!
Dabei wissen wir doch ganz genau, dass der Weihnachtsmann in Begleitung des Christkindes die Geschenke bringt.
Am Nachmittag, draußen ist es schon dunkel, sitzen wir auf der Fensterbank in der Küche. Wir sehen Mutter beim Backen der Hefeplätzchen zu und betteln: „Bitte, Mutti, mach‘ noch für jeden von uns ein Weckmännchen, bitte, bitte!“ Aus dem Restteig formt Mutter dann zwei Weckmänner, wie jedes Jahr. Mutter ist im Rheinland aufgewachsen, daher kannte sie diese Spezialität.

Der herrliche Duft der Weihnachtsplätzchen zieht durch die ganze Wohnung. Mutter räumt die Backutensilien zusammen und sagt das Weihnachtsgedicht „Die Nacht vor dem heiligen Abend“ auf.
Wir sitzen mit leuchtenden Augen und geröteten Wangen und warten auf unser fertig gebackenes Weckmännchen.
Erschrocken sieht Mutter plötzlich aus dem Fenster. „Da! habt ihr es gesehen? Eben ist es vorbeigeflogen!“ Wir drehen uns abrupt um, können aber außer einem sternenklaren Himmel nichts entdecken. „Was ist denn vorbeigeflogen?“ Mutters Stimme bekommt einen geheimnisvollen Klang. „Das Christkind, es wurde von zwei wunderschönen Engeln getragen. Wie schade, dass ihr es nicht gesehen habt!“
Ich bin unendlich traurig, gerne hätte ich das Christkind gesehen, wenn auch nur für einen ganz flüchtigen Augenblick. Morgen, denke ich, morgen werde ich keinen Moment versäumen und ganz genau aufpassen.

Stundenlang warte ich am frühen Heiligabend, aber es zeigt sich nicht. Zutiefst enttäuscht hoffe ich auf die Bescherung. Vielleicht kann ich da, wenn auch nur für eine Sekunde, etwas von ihm erblicken.
Endlich ist es dann so weit, wir hören das Glöckchen läuten. Die Wohnzimmertür
geht auf. Die Kerzen am Baum strahlen und tauchen den Raum in ein warmes Licht.
Der Christbaum, den Mutter besorgt hat, ist wie immer schön. Sie hat ihn liebevoll mit Äpfeln, Nüssen und einigen Süßigkeiten geschmückt.

Hastig schaue ich im Zimmer umher. Nicht ein Zipfelchen vom Christkind oder seinem weißen Gewand ist zu entdecken. „Wo ist es denn nun?“ Mutter schüttelt den Kopf. „Aber Kind, es muss doch alle Kinder beschenken und hat große Mühe alles zu schaffen. Der Weihnachtsmann schafft es doch nicht alleine. Es musste schnell weiter, damit kein Kind vergessen wird.“ Das erscheint mir plausibel.
Vom Weihnachtsmann der Kirche bekommen wir an diesem Weihnachtsfest 1948 einen Holzdackel geschenkt. Unser Lumpi, so haben wir ihn getauft, kann seinen Kopf, Körper und Schwanz hin- und herbewegen, wenn wir mit ihm losziehen. Wir sind überglücklich und finden ihn ganz toll.
Lumpi hat viele Jahre in unserem Kinderzimmer gelebt.

Es war damals nicht einfach, Kinderwünsche zu erfüllen, denn es gab immer noch die Lebensmittelmarken.
Die Währungsreform hatte am 20. Juni 1948 stattgefunden, aber die Marken gab es noch bis 1949. Jeder bekam damals 40 Mark, aber das reichte wirklich nur für das Nötigste.
Für uns Kinder war es trotzdem ein wunderschönes Weihnachtsfest. Wir waren glücklich und zufrieden.
„Im nächsten Jahr musst du das Christkind aber unbedingt aufhalten, damit wir es einmal sehen können!“, bettelten wir. Mutter nickte sehr ernst und versprach, alles zu versuchen.

Wie wir die nächsten Jahre feststellen mussten, hat sie es leider nie geschafft.
Aber wir waren die glücklichsten Kinder der Welt.

Marlis David

 

 

Marlis David,
geboren 1940 in Hamburg, war nach kaufmännischer Ausbildung in mehreren großen Firmen tätig. Im Ruhestand widmet sie sich ihrem Hobby, dem Schreiben. Es bedeutet für sie Glück und Berufung. Im Jahr 2011 veröffentlichte sie zwei Bücher mit Kurzgeschichten. Auch in verschiedenen Anthologien sind Kurzgeschichten von ihr zu finden. Zu Weihnachten konnte man Geschichten von ihr im Radio hören.