Rundblick

18. Februar 2022

Im Einsatz für Obdachlose

Der Mitternachtsbus

Seit 25 Jahren ist der Mitternachtsbus im Dienste der Menschlichkeit unterwegs. Viele Menschen, die ihr Leben auf der Straße verbringen, sind dankbar für dieses Angebot. Für die ehrenamtlichen Mitarbeiter des Projekts ist es ein wunderbares Gefühl diese Dankbarkeit erleben zu dürfen. Eine von ihnen ist Sonja Norgall, die mit der Einsatzleitung des Projekts betraut ist. Sie berichtet vom Leben der Menschen auf der Straße und stellt den Mitternachtsbus hinter den Kulissen vor.

 

Duvenstedter Kreisel:
Obdachlosigkeit ist in Hamburg ein Problem. Warum, glauben Sie, verbringen Menschen ein Leben auf der Straße?

Sonja Norgall: Häufig sind es persönliche Krisen und Schicksalsschläge, die die Menschen in die Wohnungslosigkeit treiben. Auslöser können etwa der Verlust des Arbeitsplatzes, Scheidung, Sucht oder ein Unfall sein. Wer die Wohnung verliert, findet häufig nur schwer eine neue Bleibe. Wenn dann noch Arbeitslosigkeit dazu kommt, entsteht ein Teufelskreis, aus dem man nur schwer wieder herauskommt. Der aktuelle Wohnungsmarkt in Hamburg bietet kaum freien und günstigen Wohnraum. Niemand möchte gern auf der Straße leben; Rückzugsräume und Privatsphäre sind elementar wichtig.

Duvenstedter Kreisel:
Das Projekt Mitternachtsbus ist für viele Hamburger Obdachlose ein Lichtblick mit einer Aussicht auf Versorgung. Wer hat dieses Projekt ins Leben gerufen?

Sonja Norgall: 1996 wurde das Projekt von dem Landespastor Dr. Stephan Reimers gegründet. Gemeinsam mit ehrenamtlich engagierten Mitgliedern des Spendenparlaments startete der Mitternachtsbus als Erfrierschutz im Winter, um obdachlosen Menschen zu helfen, von der Straße wegzukommen und nicht zu erfrieren.

Duvenstedter Kreisel:
Ist der Mitternachtsbus ganzjährig in ganz Hamburg unterwegs?

Sonja Norgall: Ja, der Mitternachtsbus fährt 365 Nächte im Jahr und versorgt obdach- und wohnungslose Menschen in der Hamburger Innenstadt.

Duvenstedter Kreisel:
An welchen Orten konzentriert sich die Obdachlosigkeit in Hamburg?

Sonja Norgall: Obdachlose Menschen leben im ganzen Stadtgebiet. Häufig fallen sie eher in den Fußgängerzonen rund um den Hauptbahnhof auf, weil sie sich dort sichtbar aufhalten und um Geld oder Essen bitten.

Duvenstedter Kreisel:
Sie handeln nach dem Leitgedanken „Kein Mensch soll auf den Straßen erfrieren“. Welche Grundversorgung bietet der Mitternachtsbus?

Sonja Norgall: Am Mitternachtsbus verteilen Ehrenamtliche jede Nacht heiße Getränke, süße und herzhafte Backwaren, Decken, Schlafsäcke, Isomatten und Kleiderspenden. Außerdem hören sie zu und geben Tipps für weiterführende Hilfen in sozialen Einrichtungen.

Duvenstedter Kreisel:
Der Mitternachtsbus ist ein hauptamtlich geführtes Projekt, bei dem sich viele Ehrenamtliche engagieren. Aus welchen Berufen kommen die Menschen, die sich bei dem das Projekt einbringen, und wie viele Helfer wirken derzeit mit?

Sonja Norgall: Es engagieren sich etwa 130 Männer und Frauen ehrenamtlich im Projekt. Sie sind zwischen 20 Jahren und Mitte 70 und kommen aus vielfältigen Berufen. Mit dabei sind etwa Büroangestellte, Krankenpfleger*innen, Pastor*innen, Lehrer*innen, Jurist*innen, Taxifahrer*innen. Vielen geht es gut und sie wollen etwas zurückgeben oder suchen eine sinnvolle und erfüllende Aufgabe.

Duvenstedter Kreisel:
Sie haben sich zum Ziel gesetzt, den Kältetod der Menschen, die auf der Straße leben, zu verhindern. Wie viele Menschen erreichen Sie auf jeder Tour?

Sonja Norgall: Wir erreichen zwischen 80 und 180 Menschen pro Nacht, je nach Jahreszeit. Im Sommer halten sich mehr Menschen draußen auf als im Winter. Außerdem stellt die Stadt Hamburg von November bis März Notunterkünfte zur Verfügung, die je nach Witterung von den Menschen aufgesucht werden.

Duvenstedter Kreisel:
Neben der Versorgung mit Lebensmitteln und Heißgetränken spielt auch der menschliche Kontakt eine große Rolle. Welche Eindrücke entstehen, wenn Sie den Obdachlosen auf Augenhöhe begegnen?

Sonja Norgall: Es sind sehr wertschätzende Momente der Begegnung auf der Straße. Die Menschen sind dankbar, wenn wir kommen, auch weil wir verlässlich wirklich jede Nacht für sie da sind. Für die Ehrenamtlichen ist es ein Perspektivwechsel. Sie sehen, dass es nicht selbstverständlich ist ein Zuhause zu haben. Es wird viel geredet und auch gelacht am Abend. Die Ehrenamtlichen kennen die Stammgäste und ihre Wünsche, man lernt sich kennen und bereichert sich gegenseitig.

Duvenstedter Kreisel:
Betreuen Sie auch medizinische Notfälle?

Sonja Norgall: Wir haben einen Erste-Hilfe-Kasten an Bord, rufen aber den Notarzt, wenn ein Gast medizinische Hilfe braucht. Wir haben auch Adressen von ehrenamtlich arbeitenden Ärzten an Bord, zu denen die Menschen am nächsten Tag hingehen können, wenn es kein Notfall ist.

Duvenstedter Kreisel:
Wie erfahren die Obdachlosen von der Existenz des Mitternachtsbusses?

Sonja Norgall: Das spricht sich herum, die Menschen helfen sich gegenseitig und geben wichtige Informationen weiter. Andere Einrichtungen wie die Bahnhofsmission am Hauptbahnhof vermitteln auch unseren Kontakt.

Duvenstedter Kreisel:
Wie verfahren Sie mit Obdachlosen, die Hilfsangebote nicht annehmen wollen?

Sonja Norgall: Unsere Angebote sind Hilfe zur Selbsthilfe und immer freiwillig. Wir kommen täglich und verlässlich und bieten unsere Hilfe an. Die Menschen entscheiden, was sie wann annehmen wollen oder ob sie andere Wege und Lösungen bevorzugen. Manchmal braucht es Zeit, bevor ein Angebot angenommen wird.

Duvenstedter Kreisel:
Helfen Sie Obdachlosen auch in der Organisation ihres Alltags?

Sonja Norgall: Wir haben Straßensozialarbeiter*innen im Team, die regelmäßig mitfahren und sich für weitere Hilfestellungen wie Begleitung zu Ämtern anbieten. Die Ehrenamtlichen verweisen auch an das Diakonie-Zentrum für Wohnungslose in Eimsbüttel, wo Sozialarbeiter*innen mit verschiedenen Sprachkenntnissen die Menschen beraten. Dort gibt es auch ein warmes Mittagessen, eine ärztliche Sprechstunde, Duschen und Waschmaschinen und Räume, in denen die Menschen zur Ruhe kommen können.

Duvenstedter Kreisel:
Der Mitternachtsbus ist spendenfinanziert. Wer kooperiert und unterstützt das Vorhaben?

Sonja Norgall: Das Projekt ist zu 100 Prozent spendenfinanziert. Das Budget trägt sich aus vielen Einzelspenden über das ganze Jahr, von Schulklassen über Firmen bis hin zu Privatpersonen, die beispielsweise anlässlich ihres Geburtstages zu Spenden für den Mitternachtsbus aufrufen.

Duvenstedter Kreisel:
Die Arbeit hinter den Kulissen bleibt oft ungesehen. Wie wird eine Tour vor der abendlichen Abfahrt organisiert?

Sonja Norgall: Die Teams treffen sich eine Stunde vor Abfahrt am Lager und bereiten die Tour vor. Dazu gehört das Erhitzen von Wasser für die Getränke, das Einladen der Backwaren und das Auffüllen der Regale mit Lebensmitteln, Decken und Kleiderspenden. Davor steht auch die Organisation der Ehrenamtlichen in 28 Teams. Neue interessierte Menschen werden informiert, ausgewählt, geschult, eingearbeitet und die Einsätze von zwei hauptamtlichen Projektleiterinnen organisiert und ausgewertet.

Duvenstedter Kreisel:
Woher bekommt der Mitternachtsbus seine Lebensmittel und Getränke?

Sonja Norgall: Wir arbeiten mit Bäckereien und einem Caterer zusammen und besorgen weitere Zutaten für die Getränke im Supermarkt und Fairen Handel.

Duvenstedter Kreisel:
Welche Voraussetzungen müssen Menschen erfüllen, wenn sie sich für den Mitternachtsbus engagieren möchten?

Sonja Norgall: Wir suchen Menschen, die das Herz am rechten Fleck und Lust auf andere Menschen haben, denen es nicht so gut geht, und das Thema Obdachlosigkeit kennenlernen wollen. Sie sollten team­orientiert, körperlich fit, unerschrocken und bereit sein, auch Grenzen zu setzen und eigene Grenzen zu reflektieren.

 

Das Interview führte Anja Junghans-Demtröder