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28. April 2022

Liebeserklärung an Jacky X

Nach zehn gemeinsamen Jahren

Er machte seinem Namen alle Ehre mit den 284 PS. Leise schnurren konnte er jedoch ebenso gut. Fast aus dem Stand beschleunigte er so rasant, dass man glaubte, ein freudiges Brüllen und Fauchen zu hören. Meine große Liebe gehörte ihm. Intime Gespräche, meist im Flüsterton, führten wir auch ab und an miteinander. Hin und wieder streichelte ich ihn zärtlich, voller Freude. Ein passender Name für ihn war schnell gefunden. Wenn mein Jacky X einen Schaden davontrug, wohl gemerkt nicht durch mich, war ich untröstlich. Er wurde noch mehr gehätschelt, bekam Soforthilfe zugesagt. Wir standen in steter Verbindung miteinander, ihm wurde alles erklärt, alles für ihn getan. So viele Streicheleinheiten, die er nach jeder Ausfahrt zum Dank für sein sicheres Ankommen erhielt, hat mein Partner selten bekommen. Er durfte immer mit mir verreisen, hat dadurch natürlich viel gesehen, was ihn begeisterte. Er schipperte im Bauch eines großen Schiffes mit mir nach Bornholm. Dort war er so auffällig – kein zweiter seiner Kategorie war weit und breit sichtbar –, dass zwei Schulklassen von etwa zwölfjährigen Buben die Daumen nach oben streckten und ihn bewunderten, statt in die Rundkirche zu gehen. Das hat ihn noch schneller, noch rasanter davon­sprinten lassen. Für Lobhudeleien war er ausgesprochen anfällig, man sah es ihm jedes Mal an, er glänzte besonders prächtig. Seine Schnelligkeit bewahrte ihn oftmals vor brenzligen Situationen.

Zu Beginn unserer Freundschaft wollte er meine Reaktionen testen und schaltete bei hohem Tempo, meist auf der Autobahn, einfach seinen Herzschlag aus. Natürlich jedes Mal, wenn ich mit ihm auf der linken Spur unterwegs war, sodass mir fast die Luft weg blieb. Diese Spielchen habe ich ihm schnellstens untersagt und ihn operieren lassen. Ab und zu begegneten wir anderen Tieren, Wildschweinen oder Rehen, denen er durch seine besondere Schnelligkeit entkommen konnte.

Im elften Jahr wurde er langsam müder und zeigte erste Alterserscheinungen. Schnell und spritzig konnte er immer noch sein, aber an so manchen Kleinigkeiten zeigte er Verfalls­erscheinungen, die irreparabel waren. Der letzte kalte Winter, mit viel Eis und Schnee, hatte ihm unendlich zugesetzt. Sein Bauch schleifte jedes Mal über das harsche Eis, was ihm nicht gut bekam und sogar Löcher in die Bauchdecke riss. Äußerlich war ihm sonst nichts anzusehen – er war immer noch der Schönste von allen für mich.

Ich weiß nicht, wie Sie zu Ihrem stehen … ob er Ihnen auch so ans Herz gewachsen ist?

Vielleicht haben Sie gar keine persönliche Beziehung zu ihm aufgebaut und sind froh, wenn er endlich wegkommt. Mir geht es nicht so! Aber trotz alledem liebäugelte ich heimlich mit einem Nagelneuen … und fühlte mich hundeelend dabei, ihn so zu hintergehen. Der Verrat wurde langsam immer konkreter und wandelte sich vom Verliebtsein in echte Liebe. Man tröstete mich und meinte, dass es mindestens noch drei Monate dauern würde, also noch Zeit wäre, sich an den Gedanken zu gewöhnen und ihn vorzubereiten.

Nach fünf Monaten war er plötzlich da … der NEUE!!!

Jetzt hieß es Abschied nehmen. Alle Versuche, meiner Raubkatze anderweitig ein gutes Plätzchen zu verschaffen, scheiterten!  Mein Jaguar musste mit ansehen, wie wir den NEUEN in Empfang nahmen, ihn bewunderten und bestaunten. Sehnsüchtig sah ich zu ihm hinüber, glaubte wahrhaftig bei ihm Traurigkeit zu erkennen. Es zerriss mir fast das Herz. Ein letztes Mal streichelte ich ihn verstohlen, wischte mir eine Träne fort und schwor mir, niemals, nein, niemals wieder eine persönliche Beziehung zu einer alten Blechkiste aufzubauen. Verdammt noch mal, ist sie doch nur ein fahrbarer Untersatz, der mich von A nach B  bringen soll!

Dann fuhr ich mit dem Neuen an Jacky X vorbei und schämte mich. 

Neben mir lagen Blumen und eine Flasche Sekt vom Autohaus – und er stand abgehalftert und schmucklos da.

Die Freude kam erst viel, viel später.

Der Neue heißt übrigens … Free Willy.

Marlis David