Artikel

4. Mai 2023

Kettenreaktionen

Kurzgeschichte von Marlis David

Feuer, Feuer, Feuer
Es war damals am Silvesterabend. Einige Hausbewohner hatten sich bei Gesine Habermann verabredet, um gemeinsam zu feiern. Gesine hatte den Tisch festlich gedeckt und wundervolle Schnittchen zubereitet. Dazu sollte es köstliches Bier geben und zu später Stunde einen besonderen Sekt zum Anstoßen, um das neue Jahr zu begrüßen. Lächelnd stand sie in der Tür und schaute in die Runde, um schließlich Max Lehmann für eine kleine Überraschung auszusuchen. Max bekam einen Teller mit einem Deckel überreicht. „Bitte erst den Deckel entfernen, wenn wir alle unser Essen haben!“, rief Gesine verschmitzt lächelnd. Max nickte verständnisvoll.

Auf dem Tisch stand ein silberner Kerzenständer mit drei sehr langen Kerzen, die ein schönes, warmes Licht machten. Gerade hatten sich alle zugeprostet und guten Appetit gewünscht, da hob Max den Deckel von seinem Teller. Ein lauter Schrei durchdrang das Zimmer. Max sprang wie vom Teufel gehetzt auf, krallte sich in die Tischdecke und riss alles, was auf dem Tisch stand, hinunter. Die drei Kerzen entzündeten sofort die Tischdecke und den Teppich; in wenigen Sekunden stand das Zimmer in Flammen und alle Gäste schrien durcheinander. Es war ein Inferno, ein heilloses Durcheinander, jeder drängte zur Haustür, die jedoch verschlossen war.

Jemand hatte die Feuerwehr verständigt. Draußen heulten die Sirenen der Unfallwagen. „Mindestens drei“, befand Claus Peter Nielsen und keuchte, sich ein nasses Taschentuch vor den Mund haltend: „Sie sind dabei ein Sprungtuch auszubreiten!“ Alle saßen jetzt im Schlafzimmer, vor Angst fast ohnmächtig. Max fühlte sich schuldig, sprang plötzlich auf, rannte durch die Flammen in die Küche, öffnete das Fenster und sprang wie von Sinnen in die Tiefe.
Die umstehenden Menschen schrien vor Entsetzen auf. Sofort waren Sanitäter zur Stelle und trugen ihn in einen Unfallwagen. Mit lautem Geheule brauste er davon. Über Feuerwehrleitern konnten anschließend alle gerettet werden. Das Sprungtuch kam nicht mehr zum Einsatz. Die Feuerwehrmänner hatten noch die ganze Nacht damit zu tun, das Feuer unter Kontrolle zu bekommen. Erst am nächsten Morgen konnten sie abziehen.
Das Dachgeschoß war nun nicht mehr bewohnbar, es musste abgerissen werden, es war total zerstört. Alle fragten sich, warum Max Lehmann so entsetzt gewesen war. Gesine schüttelte nur den Kopf und zog die Schultern hoch: „Ich werde ihn fragen, wenn er wieder das Bewusstsein erlangt hat!“

Die Ärzte diagnostizierten bei Max eine Querschnittslähmung und sagten ihm, dass er für immer auf den Rollstuhl angewiesen sein würde. Für Gesine war das Ganze unfassbar. Sie hatte keine Bleibe mehr und all ihre Sachen waren dem Feuer zum Opfer gefallen. Die Fotos von ihren Auslandsreisen und von ihrer Familie, unwiederbringliche Erinnerungen – alles in den Flammen verbrannt, alles nur noch Asche. Und alles wegen dieses Silvesterscherzes. Sie war heilfroh, dass außer Max niemand zu Schaden gekommen war. Gottseidank konnte sie für die erste Zeit bei ihrer Cousine Ruth unterkommen.

„Was hast Du denn damit gemeint, als Du mir einen Haufen auf meinen Teller gelegt hast?“, fragte Max Gesine bei ihrem nächsten Krankenbesuch. Dabei sah er sie bitterböse und mit hochrotem Kopf an. Gesine war sprachlos. Sie dachte, er mache Spaß, aber er meinte es ernst. „Aber Max, das war doch ein Scherzartikel aus Plastik, den man zu Silvester statt Kuchen auf den Teller legt.“ „Das kannst Du mir nicht erzählen. Der war echt, das habe ich doch gerochen! Ich könnte mir ja einen Strick nehmen, wenn das ein Scherz gewesen sein sollte und dadurch bald das ganze Haus abgefackelt ist!“ „So ist es, Max, genau so ist es! Da haben wir nun das entsetzliche Unglück! Wir können froh sein, dass es keine Toten gegeben hat!“ Max kam ins Grübeln, er raufte sich seinen leicht ergrauten Haarschopf. „Aber das sah doch so echt aus, zum Verwechseln …! Ich glaube, das nennt man Kettenreaktion oder so ähnlich …!“ „Aber ganz schön heftig, Max, ich hoffe, Du bist gut versichert?“, fragte Gesine. Max nickte verschämt.

Zwei Jahre waren vergangen, als Gesine Habermann Max Lehmann das erste Mal auf der Hauptgeschäftsstraße wiedersah. Er saß in seinem Rollstuhl und bettelte. Eine Weile beobachtete sie ihn, wie er so dasaß und trübe vor sich hinstarrte. Dieses armselige Häuflein Mann, total heruntergekommen, bedauernswert. Und alles nur wegen eines nachgemachten Haufens aus Plastik – unvorstellbar! Welcher Teufel hat mich nur geritten, als ich diesen Einfall hatte, dachte Gesine, als Max sie bemerkte und ihr zuwinkte. Sie winkte zurück, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in der Menge. Sie konnte und wollte diese Schuld nicht auf sich nehmen, denn daran würde sie zerbrechen, das wusste sie.

Gedankenverloren betrat sie die Strasse, schaute nicht nach rechts und links, und übersah den Lastwagen, der gerade abbiegen wollte. Ein ohrenbetäubendes, rumpelndes Geräusch durchdrang die Stille. Der Fahrer des Lastwagens bremste abrupt und sprang aus dem Wagen. Er hatte ihn in letzter Sekunde zum Stehen gebracht und schrie Gesine an: „Sie haben wohl keine Augen im Kopf, sind wohl lebensmüde – oder träumen Sie?“ Ohne dem Lastwagenfahrer zu antworten, drehte sich Gesine um und wechselte die Straßenseite.

Dort wartete Max Lehmann schon kopfschüttelnd auf sie: „Wohl lebensmüde? Das war aber knapp!“ Er hat durch seine Blödheit mein Leben zerstört wie auch sein eigenes, dachte Gesine erbost. Ihre Wut verwandelte sich in Hass, der mit jedem Schritt, den sie näher kam, größer wurde. „Wie geht es Dir, Max?“, täuschte sie falsche Freundlichkeit vor. „Wie soll es einem armen Krüppel schon gehen? Natürlich beschissen! Hast Du inzwischen eine neue Wohnung?“ Sie sah ihn argwöhnisch an. „Ja, sogar mit Fahrstuhl!“ Max wurde plötzlich ganz munter. „Hast Du mehrere Zimmer?“, fragte er hastig. Gesine wurde stutzig. „Warum willst Du das wissen?“ Er sah sie lauernd an. „Nun, ich meine, Du bist mir doch einiges schuldig. Du hast mich schließlich in diese Scheißlage, in der ich heute leben muss, gebracht. Da wäre es doch wohl durchaus verständlich und angemessen, wenn Du jetzt für mich sorgen würdest!“

Gesine blieb die Luft weg, sie musste mehrmals tief durchatmen. Dann ging ein Ruck durch ihren Körper. Sie ging um seinen Rollstuhl herum, fasste beide Haltegriffe und schob ihn in rasantem Tempo die Straße entlang zur nächsten Ampel. „Wo willst Du mit mir hin?“, fragte Max verdutzt. „Na, zu meiner Wohnung. Du musst sie doch wenigstens vorher gesehen haben!“, schrie ihm Gesine ins Ohr. Max klammerte sich Halt suchend an seinem Rollstuhl fest und nickte ihr mehrmals verständnislos zu.

Er konnte ja nicht ahnen, eventuell sogar wissen, dass Gesine schon viele Jahre unter einer psychogenen Störung litt und einige Zeit in einer Klinik für psychisch Kranke zugebracht hatte. Sie durfte sich nichts zu Schulden kommen lassen, sonst würde sie dort wieder einziehen müssen. Hass konnte bei ihr durchaus ein auslösender Faktor sein. Wirre Gedanken voll niedriger Emotionen schwirrten ihr durch den Kopf, als sie die Straßenbahn in schnellem Tempo auf die Haltestelle zufahren sah. Ohne lange zu überlegen, begann sie zu laufen, schneller, immer schneller. Sie war jetzt vor der Bahn, gab dem Rollstuhl einen kräftigen Stoß, sodass er vor der Bahn auf den Schienen landete und der Fahrer nicht mehr bremsen konnte. Das laute Quietschen der Bremsen und ein markerschütternder Schrei waren kilometerweit zu hören.

Gesine beeilte sich, den Tatort zu verlassen, indem sie auf dem Absatz kehrt machte und an der nächsten Ampel über die Straße ging, um ihren Heimweg anzusteuern. Mit lautem Sirenengeheul fuhren mehrere Unfallwagen an ihr vorbei. Sie empfand überhaupt kein Schuldgefühl. Sie glaubte an eine gerechte Strafe. Max konnte doch nicht über ihr weiteres Leben bestimmen und solche Forderungen an sie stellen. Er war doch der allein Schuldige an seiner Misere, hatte alles selbst zu verantworten. Er war doch der Täter, rechtfertigte sie ihre Handlung. Am nächsten Morgen hatten alle Zeitungen die Meldung über den herbeigeführten Unfall, wie er beschrieben wurde, auf den ersten Seiten. Der Mann war auf der Stelle tot, war zu lesen. Die Frau, die den armen Mann absichtlich vor die Strassenbahn gestoßen haben sollte, wurde in verschiedensten Varianten beschrieben und dank mehrerer Hinweise immer wieder anders dargestellt. Mal war sie klein, dann wieder groß, mal blond, mal braunhaarig und über das Alter konnte so recht niemand eine Aussage machen.

Am nächsten Morgen bekam Gesine mehrere Anrufe von ihren früheren Mitbewohnern aus dem alten Haus, mit denen sie damals Silvester gefeiert hatte. „Hast Du schon die Zeitung gelesen? Du, Gesine, der Max Lehmann hatte einen Unfall. Er wurde von der Straßenbahn überrollt. Ist das nicht schrecklich?“ „Ja, wie furchtbar, es trifft doch immer die Falschen. Es war sicher eine Kettenreaktion widriger Umstände, so ein Scheißspiel!“, entgegnete Gesine scheinbar mitfühlend.

Zur Beerdigung waren alle ehemaligen Nachbarn gekommen. Jeder warf eine rote Rose auf den Sarg und sprach ein paar Worte am Grab. Nur Gesine warf ein kleines, mehrfach in blütenweißes Toilettenpapier gewickeltes Päckchen, das mit einer roten Schleife versehen war, auf den Sarg – und drei Schaufeln Sand hinterher.
Dieses Corpus Delicti wurde Gesine am Ende zum Verhängnis, denn auf der Beerdigung waren auch zwei Kripobeamte. Die hatten das kleine, in Toilettenpapier gewickelte Päckchen aus dem Grab geholt und sich sehr über den Inhalt gewundert. Daraufhin wurde ein Foto von Gesine in der Zeitung veröffentlicht. Mehrere Personen meldeten sich, die gesehen hatten, wie Gesine mit dem Rollstuhl neben der Straßenbahn hergelaufen war und dem Rollstuhl einen heftigen Stoß versetzt hatte.
Nun ging alles seinen gerechten Gang.

Das Beweisstück liegt heute in der Asservatenkammer und Gesine wird noch viele Silvester hinter Gittern verbringen müssen, denn es soll untersucht werden, ob sie vielleicht sogar ihre beiden verstorbenen Ehemänner auf dem Gewissen haben könnte.
Es sind oftmals nur Kleinigkeiten, die aber dazu führen können, ein ganzes Leben in die falsche Richtung zu lenken.

Marlis David

Marlis David,
geboren 1940 in Hamburg, war nach kaufmännischer Ausbildung in mehreren großen Firmen tätig. Im Ruhestand widmet sie sich ihrem Hobby, dem Schreiben. Es bedeutet für sie Glück und Berufung. Im Jahr 2011 veröffentlichte sie zwei Bücher mit Kurzgeschichten. Auch in verschiedenen Anthologien sind Kurzgeschichten von ihr zu finden. Zu Weihnachten konnte man Geschichten von ihr im Radio hören.