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1. März 2021

Glück ist nur ein flüchtiger Moment

Kurzgeschichte von Marlis David

„Wie gerne wäre ich in Morpheus` Arme gesunken, einfach nur schlafen, schlafen, schlafen …

Wenn Sie sich einen Moment zu mir setzen, dann erzähle ich Ihnen, was mir nachts den Schlaf raubt.

Jeden Abend, wenn die Dunkelheit hereinbrach, beherrschte mich nur ein Gedanke. Mir traten Schweißperlen auf die Stirn, die Hände wurden feucht, fingen an zu zittern, mein Blick ganz abwesend, fahrig, unbeschreiblich … Meine Sucht, meine Spielsucht beherrschte mich. Jede Nacht trieb sie mich aus dem Haus. Doch irgendwann sagte ich mir: Diese Nacht muss es das letzte Mal sein – endgültig!!
Ich war am Ende. Alles hatte ich schon aufs Spiel gesetzt. Das Haus war mit Hypotheken belastet, mein Auto, mein geliebtes Sportcabrio, lange verkauft, meine Freunde über die Maßen angepumpt. Woher noch Geld nehmen?!

Es war in jener Nacht die letzte Chance zu gewinnen, einmal Glück haben oder den großen Coup landen, vielleicht auch nur den richtigen Lauf haben. Es war mir völlig klar, sollte es nicht gelingen, konnte ich mir gleich eine Kugel durch den Kopf jagen.

Meine gutgehende Zahnarztpraxis stand vor der Insolvenz. Meine hohen Entnahmen, das Fortbleiben meiner Patienten, die Kündigung meiner beiden Assistentinnen, denen ich die Gehälter nicht mehr zahlen konnte – ich war am Ende.
Meine Frau Susanne reagierte weder auf meine liebevolle Zuwendung noch auf Ablehnung oder Aggression. Sie hatte für mich weder Sympathie noch Antipathie, ich existierte für sie einfach nicht mehr. „Du hast unser Leben zerstört!“, schluchzte sie verbittert. Womit sie ja auch recht hatte. Es war schon so weit, dass ich nachts die vierzig Kilometer nach Hause raste, meine Susanne weckte, ihr das Haushaltsgeld abnahm, wieder in die Spielbank zurückeilte, um auch den Rest des Geldes zu verspielen. Wenn Susanne sich weigerte, drohte ich ihr Schläge an.

Systematisch hatte ich mich ruiniert. Jeden Abend, jede Nacht hatte ich am Tisch beim Roulettespiel gesessen … wie im Rausch auf Rot oder Schwarz gesetzt, bei jedem Verlust den Einsatz verdoppelt. „Rien ne va plus – nichts geht mehr!“ Diese Worte des Croupiers lösten bei mir einen Adrenalinstoß aus. Wie im Rausch setzte ich die Jetons. Gewinn und Verlust hielten sich manchmal die Waage, aber am Ende hatte natürlich die Bank gewonnen.

In jener besagten Nacht bekam ich tatsächlich meine große Chance. Zunächst lief alles wie gewohnt, ein stetes Auf und Ab. Völlig apathisch starrte ich auf meine wenigen Jetons. Mir gegenüber saß die alte Frau Baronin, wie immer mit weißen Handschuhen. Sie nickte mir freundlich zu. Bisher hatte ich sie gar nicht bemerkt. Sie ist sicher gut betucht, ging es mir durch den Kopf. Vermutlich treibt die Einsamkeit sie jeden Abend ins Casino.
Wir hatten bisher kaum drei Worte miteinander gewechselt, obgleich wir uns fast jeden Abend sahen. Aber richtige Spieler sehen nur das Roulette, die weiße Kugel, die Zahlen, sie vergessen alles um sich herum.

Plötzlich hielt ich inne, beobachtete das Spiel der alten Dame. Sie befand sich in einer Gewinnsträhne, türmte einen Berg von Jetons vor sich auf, zwinkerte mir dabei spitzbübisch zu. Sie setzte auf die Zweiundzwanzig, ich hängte mich intuitiv an, setzte dieselbe Zahl, denn ich hatte keine andere Idee mehr.

Die Zweiundzwanzig kam, wir hatten gewonnen. Noch niemals in all den Jahren hatte ich so ein Spiel gespielt – ein Spiel der Willkür. Für mich musste alles berechenbar sein. War eine Serie Schwarz gekommen, konnte man davon ausgehen, dass Rot folgte. Die Häufigkeit der Serie war eher mein Spiel. Jetzt hängte ich mich an das Spiel der Baronin einfach dran ohne nachzudenken. Wir gewannen, wieder und wieder, es war unser Spiel. Ich konnte es nicht fassen. Sie bemerkte es, strahlte mich an.

In diesem Moment war ich so glücklich, so unendlich zufrieden wie selten in meinem Leben. Es war gar nicht das Geld, sondern das Gefühl, endlich einmal wieder auf der Gewinnerseite des Lebens zu stehen.

Plötzlich stand die Baronin auf, kramte ein besticktes Beutelchen hervor, sammelte ihre Jetons ein, nickte kurz und ging.
Es war Zeit für mich meinen Gewinn zu zählen. Vor mir lag Spielgeld im Wert von mehr als einhundertzwanzigtausend Euro. Hastig raffte ich alles zusammen, eilte zur Kasse, tauschte die Jetons um. Fluchtartig verließ ich das Casino. Es war lange her, dass ich einen solchen Gewinn nach Hause tragen durfte.

Doch auf halber Wegstrecke drängte sich die Sucht schon wieder in mein Gehirn. Heute ist dein großer Tag, heute bist du auf der Gewinnerseite, heute gelingt dir alles. Wenn du jetzt umkehrst, kannst du mit diesem Geld die selbe Summe bestimmt noch einmal gewinnen! Die Spielsucht gewann die Oberhand, es war wie ein Zwang!
Natürlich war es nicht mein großer Glückstag!

Glück ist immer nur ein flüchtiger Moment, den man ergreifen und festhalten muss, man kann das Glück nicht zwingen.
Es kam, wie es kommen musste, ich verspielte alles wieder. Der große Tröster war eine Flasche Whisky.
In der darauf folgenden Nacht bedrohte Susanne mich mit einem Revolver, den sie sich irgendwo besorgt hatte. Jetzt fürchtete ich um mein Leben. Den Revolver konnte ich ihr entwinden, aber damit war unsere Ehe am Ende. In dieser Ausweglosigkeit griff ich immer häufiger zur Flasche. Erst war es Whisky, danach nur noch dieser billige Fusel. Man hat mir mein Haus genommen, meine Praxis, meine Lebensgrundlage, aber was rede ich für einen Unsinn, ich selbst mit meiner Sucht war es, der alles zerstört hatte.

Die Antwort auf Ihre Frage, warum ich hier jede Nacht völlig heruntergekommen auf dieser Parkbank liege, immer eine Weinflasche billigster Sorte im Papierkorb verstecke und Sie schon des Öfteren volltrunken mit den Worten: „Latschen Sie nicht immer durch mein Wohnzimmer“ beschimpft habe, kennen Sie nun.

Meine Sucht war der große Sieger, hat mich in die Knie gezwungen. Tiefer, immer tiefer der Fall – unaufhaltsam! Die unauslöschlichen Bilder dieser besonderen Nacht verfolgen mich immer, wenn es dunkel wird, rauben mir seitdem nachts den Schlaf. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich das Geld durch meine Hände gleiten, sehe den verzweifelten Moment meines letzten Spiels, einhundert Euro auf Rot, doch Schwarz kam …

Aus, alles war aus! Ich wollte nur noch sterben …

Sie wollen wissen, warum ich mir die Kugel nicht durch den Kopf gejagt habe? Das kann ich Ihnen sagen: Tiere sterben ohne zu wissen, was der Tod überhaupt ist, aber wir Menschen wissen darum.
Es gehört viel Mut dazu … Ich war immer zu feige …

Es gibt doch diesen Spruch „Die Hoffnung stirbt zuletzt“ – daran halte ich fest. Heute kann ich sagen, dass ich zufrieden bin. Es gibt einen Silberstreif am Horizont, man muss ihn nur sehen. Menschen halfen mir, sie haben dafür gesorgt, dass ich wieder ein Konto bei einer Bank eröffnen konnte. Dadurch wurde ich wieder geschäftsfähig. Es sind Menschen, die ich nicht enttäuschen darf. Meine Sucht habe ich hoffentlich für immer besiegt.

Jetzt warte ich darauf, dass die Bilder, die mir nachts den Schlaf rauben, verschwinden, damit ich endlich selig in Morpheus` Armen schlafen kann!

Marlis David

 

 

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