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18. Januar 2022

Totes Feld (Teil5)

Thriller von Andreas Richter

Rückblick – so endete Teil 4:

Junge
Der Junge entdeckte die Schere, die neben der Frau lag. Mit einer schnellen Bewegung nahm er sie an sich. Dann raffte er das Hemd und lief zu Tür. Sie war nicht verriegelt. Der Junge zog sie auf.

Helles Tageslicht schlug ihm entgegen. Der Junge drehte sich zu der Frau um, die sich wie von Sinnen schreiend aufrappelte. Er war sicher, dass sie ihn töten würde, wenn sie ihn in die Finger bekäme. Sie durfte ihn nicht erwischen.

Der Junge wusste nicht, in welche Richtung er laufen sollte. Doch er hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Dicht hinter sich hörte er ein Schnauben. Er blickte über seine Schulter und sah, dass die ausgestreckte Hand der Frau nach ihm griff.

Er rannte los.

Oliver
Jens schob die Tasse zur Seite, legte den Ordner auf den Tisch und klappte den vorderen Deckel zurück. Trennstreifen aus farbigem Karton, an den überstehenden Ende vertikal von Hand beschriftet, sorgten für eine übersichtliche Ablage. Jens fand im Handumdrehen, wonach er suchte. Er löste den Klemmbügel und sagte: „Als ich ein Kind war, war es in dieser Gegend weit weniger dicht bebaut. Viele heutige Grundstücke gab es damals noch nicht. Stattdessen Felder und Ackerland. Das Feldstück, über das wir reden, ist tot, solange ich zurückdenken kann. Meine Mutter hatte mir verboten, auch nur einen Fuß draufzusetzen und ich musste versprechen, dort nicht zu spielen. Das Feldstück bot aber auch ein wirklich bizarres Bild: Inmitten der Natur, die nach jedem Winter zum Leben erwachte, lag dieses tote Stück Boden, auf dem nie etwas wuchs. Nicht mal ein einziger Halm. Natürlich gab es eine Menge Gerüchte, dass das Feldstück die Pforte zur Hölle sei. Dass dort tausende Tote verscharrt seien. Oder dass dort eine Büchse vergraben sei, in der das Ende der Menschheit steckt. Die Geschichten konnten gar nicht wild genug sein.“

Ich ertappte mich dabei, dass ich an Jens‘ Lippen klebte. Ich wollte alles über das tote Feld erfahren.

Jens entsperrte die Hebelmechanik des Ordners. Er nahm ein kopiertes Schriftstück des Amtsgerichts heraus und schob es mir rüber.

„Was ist das?“, fragte ich. Ich hatte keine Lust, sperriges Juristendeutsch zu lesen.

Er sagte: „Irgendwann stellte das Grundbuchamt fest, dass der eingetragene Besitzer des Feldes in den fünfziger Jahren verstorben und das Feld offenbar in Vergessenheit geraten war. Es gab keine auffindbaren Erben, so dass das Nachlassgericht schließlich feststellte, dass der Fiskus gesetzlicher Erbe sei. Erbberechtigter sei das Bundesland, in dem der Erblasser zum Zeitpunkt seines Todes wohnte. In diesem Fall Hamburg. Somit gehörte das Feld nun der Stadt. Und die machte damit erst mal … nichts.“

Nun nahm Jens zwei Schutzhüllen aus dem Ordner, in denen mehrere ausgeschnittene Zeitungsartikel steckten. „Nach und nach bekam auch die Presse Wind davon, dass im beschaulichen Lemsahl-Mellingstedt ein kleines Stück Feld liegt, das so leblos ist wie ein Planet, dessen Sonne vor tausend Jahren erloschen ist. Sogar die New York Times berichtete über das Phänomen.“

„Wurden denn vom Boden keine Proben genommen?“, fragte ich.

„Doch, allerdings erst Anfang der Achtziger. Das Wachstum des Stadtteils führte dazu, dass Ackerland in Bauland umgewidmet werden sollte. Damit wurde das tote Feldstück für die Stadt interessant.“

Jens nahm das nächste Schriftstück aus dem Ordner. Eine weitere Kopie. An der getackerten Metallklammer oben links erkannte ich, dass es mehrere Seiten umfasste. Es stammte von einem Institut für Boden und Umwelt. Ich fragte mich, wie Jens an all die Dokumente rangekommen war.

Er sagte: „Es wurde ein Gutachten erstellt, doch man stieß auf nichts. Kein Gift, kein einziger Schadstoff. Allerdings auch keinerlei Nährstoffe oder Spuren. Vollkommen toter Boden. Nun hatte die Stadt als Eigentümerin ein echtes Thema, umso mehr, da das Feld zu Bauland umgewandelt werden sollte. Man ließ den Boden mehrfach pflügen und aufwändig aufbereiten, doch er blieb tot. Als Nächstes wurde der Boden abgetragen und ersetzt, und man dachte wohl, damit sei das Problem gelöst. Allerdings vergingen keine zwei Wochen, bis auch der ausgetauschte Boden abgestorben war. Man konnte geradezu dabei zusehen, wie dem Boden das Leben entwich. Als würde er aus der Tiefe heraus vergiftet. Ich habe es selbst gesehen, es war völlig unwirklich.“

Ich schüttelte fasziniert den Kopf. „Wie kann das sein?“, fragte ich.

„Ganz einfach“, sagte Silke achselzuckend. „Das Feld ist verflucht.“

Sie stand auf. „Noch jemand Kaffee?“

Junge
Der Junge hatte nicht ausreichend Kraft, um lange zu rennen. Schon bald wurde er langsamer, bis er schließlich stehen blieb. Er rang nach Luft und hatte Seitenstiche. Er drehte sich um und sah das kleine Holzhaus, in dem er die vergangenen Tage eingesperrt gewesen war. Der Junge glaubte, eine weitere Strecke gerannt zu sein, doch das Haus war näher als gedacht. Von der Frau war nichts zu sehen, aber das hatte nichts zu sagen. Sie konnte jeden Moment auftauchen. Der Junge musste weiter.

Mal ging der Junge, mal trabte er. Er kam nur langsam voran. Ihm war schwindelig und er hatte stechenden Durst. Die Sonne stand noch nicht im Zenit, doch sie brannte bereits. Der Tag würde noch heißer werden. Dem Jungen war klar, dass er Schatten suchen musste. Und er brauchte Wasser, doch zum See konnte er nicht zurück. Was, wenn die Frau ihm dort auflauerte? Nein, er musste weiter und darauf hoffen, auf einen Bach oder eine Quelle zu treffen.
Der Junge fragte sich, wo er war. Die Bäume standen weniger dicht als dort, wo er herkam. Er sah keine bestellten Felder. Die Luft roch anders und auch die Stille war anders. Der Junge fühlte sich entsetzlich allein.

Ihm schossen Tränen in die Augen. Die Sehnsucht, bei seiner Familie zu sein, zerriss ihn fast. Er wollte nichts sehnlicher als die Mutter zu sehen, den Vater, die Schwestern, die Großmutter. Er wollte zuhause sein, dort, wo alles vertraut war und er alles kannte. Wo ihm nichts passieren konnte. Wo er immer sicher gewesen war.

Bis zu dem Tag, als der Vater nach Hause zurückgekehrt war. Einmal mehr war er für Schnitzarbeiten eine längere Zeit in der Stadt gewesen. Wie jedes Mal, wenn er dann zurückkehrte, sah er sehr müde aus, doch dieses Mal umgab ihn zusätzlich eine Traurigkeit, die so schwer wirkte, dass der Junge sich fragte, ob der Vater sich denn gar nicht freute, wieder heimzukommen.

Die ganze Familie saß beim Essen. Es gab Kartoffeln, Mais und Huhn. Ein Festmahl. Niemand sprach. Wie bereits seit einiger Zeit. Seitdem das Baby da war, wurde im Haus nur noch wenig gesprochen und der Junge verstand nicht, weshalb. Er wollte vom Vater wissen, wie es in der Stadt gewesen war und an was er gearbeitet hatte, doch er traute sich nicht, das schwere Schweigen zu durchbrechen. Er würde den Vater später danach fragen.

Plötzlich waren die Männer da. Wie aus dem Nichts kommend hatten sie das Haus umstellt. Sie waren mit Sensen, Heugabeln und weiteren Landwirtschaftsgeräten bewaffnet und hatten nur darauf gewartet, dass die gesamte Familie in der Falle saß.

„Alle rauskommen!“, befahl einer der Männer.

Die Mutter erstarrte. Der Vater und die Großmutter standen auf, sahen durchs Fenster und begriffen sofort, was die Stunde geschlagen hatte. Die Großmutter ging zur Mutter und ohrfeigte sie mit harter Hand.

„Hure“, zischte sie. „Wie oft habe dir gesagt, dass du es ihm geben sollst? Ich alte Närrin hätte mich nicht von deinen Tränen erweichen lassen sollen.“

Die Mutter begann zu schluchzen.

„Rauskommen!“, rief der Mann erneut. „Wir warten nicht länger.“

Einige Fackeln wurden entzündet.

„Du weißt, was zu tun ist“, raunte die Großmutter dem Vater zu.

Er nickte kaum merklich.

In einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, befahl die Großmutter die Zwillinge zu sich. Die Mutter war leichenblass geworden. Sie hob das Baby aus dem Bett.

Bloß den Jungen holte niemand zu sich. Er stand allein und verstand nicht, was vor sich ging, doch er konnte die Bedrohung geradezu riechen. Weshalb sah ihn niemand? Er begann zu weinen.

Plötzlich beugte sich der Vater zu ihm runter. Der Junge blickte durch einen Schleier aus Tränen. Der Vater sah traurig aus, mutlos.

„Hör‘ zu“, sagte der Vater leise. „Die Männer sind gekommen, um zu holen, was hier ist, aber nicht hierhergehört.“

„Was denn?“, fragte der Junge ängstlich.

„Das kleine Mädchen.“

„Warum?“

Der Vater strich dem Jungen über den Kopf. „Hör‘ zu, mein Sohn: Du musst den Leuten berichten, was hier passiert. Erst wenn die Vergangenheit ihre Dunkelheit verloren hat, ist Zeit für Neues.“ Er drückte dem Jungen das Schnitzermesser in die Hand. „Es ist ein gutes Messer. Solange du es bei dir hast, passiert dir nichts.“

Er lächelte dem Jungen aufmunternd zu, doch seine Augen blieben ernst. Dann wandte er sich ab, rief der Mutter und der Großmutter einige Worte zu und küsste die Zwillinge auf die Stirn.

Ohne sich zu bewaffnen verließ er das Haus und trat den Männern gegenüber. Er wusste, dass er nichts ausrichten konnte. Alles was ihm blieb, war ein wenig Zeit rauszuholen, damit die Mutter und die Großmutter taten, was sie tun mussten.

Der Vater war kein frommer Mensch, doch er dankte Gott, nicht an ihrer Stelle sein zu müssen.

Oliver
Während Silke Kaffee nachschenkte, fuhr Jens fort: „Wie gesagt, es gab das außereheliche Mädchen. Außereheliche Kinder waren damals keine Seltenheit, doch man schwieg dazu. Manchmal wusste selbst der Ehemann nicht, dass er nicht der Vater war. Und falls doch, wurde darüber nicht gesprochen.“

„Früher bedeutete ein außereheliches Kind nicht das Ende der ehelichen Gemeinschaft, denn viele Ehen waren in erster Linie zweckmäßige Bündnisse“, fügte Silke hinzu, ganz so, als erzähle sie mir etwas vollkommen Neues.

Ich sagte an Jens gewandt: „Doch in diesem Fall war dem Ehemann vermutlich klar, dass das Kind nicht von ihm war. Weil er zu Schnitzarbeiten in Hamburg länger von zuhause fort war und der Zeitpunkt der Geburt nicht mit einer möglichen Empfängnis durch ihn zusammenpasste.“

Jens nickte. „Genau so muss es gewesen sein. Die zeitliche Diskrepanz fiel auch anderen auf. Warte … .“

Er blätterte, und nachdem er fand, wonach er gesucht hatte, schob er mir den Ordner zu. Ich sah auf eine Fotokopie. Sie zeigte eine handschriftliche Notiz, die ich nicht entziffern konnte. Ich sah Jens fragend an.

Er sagte: „Auch unter den einfachen Leuten gab es welche, die des Schreibens zumindest ein wenig mächtig waren. Damals glichen die Tage einander wie ein Ei dem anderen, und geschah etwas Ungewöhnliches, wurde es manchmal festgehalten. Die wenigen aus jener Zeit dokumentierten Geschehnisse sind heute natürlich Gold wert.“

„Zumindest für Menschen wie Jens“, sagte Silke und zwinkerte mir zu.

Jens ignorierte das. „Die Initialen unter der Notiz lassen auf eine Frau aus der Nachbarschaft der Familie schließen. Nachbarschaft bedeutete damals natürlich nicht, dass man wie heute Zaun an Zaun lebte. Das nächste Haus, der nächste Hof … das konnte schon einen längeren Fußmarsch entfernt sein. Jedenfalls, die Frau schrieb von einem Mädchen, das die Frau ohne das Zutun des Ehemanns ausgetragen hat und verband das mit der Vermutung, dass es vom Gekrönten Haupt der Wahren stammt.“

„Von bitteschön wem und was?“, fragte ich. Ich verstand nicht das Geringste.

„Die Wahren war eine kleine und kurzlebige Gemeinschaft, die sich als Gegen­ideologie zur Kirche ausgerufen hatte. Ihr gehörten einige wohlhabende Hamburger Kaufleute an. Einer von ihnen war das sogenannte Gekrönte Haupt. Er war der Kopf der Gemeinschaft. Jedoch verlor er diesen ziemlich genau bereits ein Jahr nach der Gründung. Auch weitere Mitglieder wurden geköpft und die Gemeinschaft wurde zerschlagen. Damals legte man sich mit der Kirche noch weniger an als heute.“

„Was war das Ziel der Gemeinschaft?“, fragte ich.

„Geld und Macht vermutlich. So wie immer. Aber darüber hinaus? Es gibt so gut wie keine erhaltenen Dokumente. Wahrscheinlich wurde fast alles im Zuge der Ausradierung der Gemeinschaft verbrannt. Wie gesagt, es war eine kleine Gemeinschaft, die über Hamburg hinaus ohne Bedeutung war.“

„Und das Gekrönte Haupt hat der Frau des Hauses, das früher auf dem toten Feld stand, ein Kind gemacht?“

„So ist es wohl gewesen.“

„Aber weshalb? Wenn der Kerl ein reicher Kaufmann aus der Stadt war, warum sollte er sich mit einer einfachen Frau in den Walddörfern abgeben, die bereits eine Familie hatte?“

Jens zuckte mit den Schultern. „Möglicherweise gehörte ihm das Land, auf dem das Haus stand, vielleicht gefiel sie ihm und die Familie genoss deshalb einige Privilegien und als Gegenleistung dafür verlangte er, dass sie mit ihm … – na, du weißt schon.“

„Wenn ich dir richtig folge, gibt es viele Annahmen, aber nur wenig, das sicher feststeht. Das meiste sind Spekulationen.“

„Wie soll das denn auch anders sein?“, fauchte Jens so unerwartet, dass ich zusammenfuhr. „Ich bin schließlich keine dreihundert Jahre alt und war damals nicht dabei. Niemand kann mit Sicherheit sagen, was geschehen ist. Aber es gibt einen Grund, dass der Boden mausetot ist, und mein Bauchgefühl sagt mir, dass es mit der Gemeinschaft und mit dem außerehelichen Kind zu tun hat.“

„Ich sag‘ ja, jemand hat den Boden verflucht“, murmelte Silke.

Junge
Der Junge stand in der Ecke des Hauses. Die Mutter hatte ihn angewiesen, an die Wand zu schauen und sich nicht umzudrehen. Sie stand hinter ihm, hielt das Baby im Arm und schluchzte. Der Junge wollte wissen, was hinter seinem Rücken los war, doch er traute sich nicht, nachzusehen.

Er hatte nicht mitbekommen, dass die Großmutter mit den Zwillingen in den Teil des Raumes gegangen war, der durch einen Vorhang mehr schlecht als recht abgetrennt war und wo das Bett stand, in welchem die Eltern und die Großmutter abwechselnd schliefen.

Während der Vater vor dem Haus durch einen Beilhieb starb, tötete die Großmutter die Zwillinge. So, wie der Vater es ihr zugerufen hatte und wie sie es auch ohne seine Anweisung getan hätte. Die Großmutter brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was die Männer mit den Mädchen anstellen würden, sollten sie ihnen in die Hände fallen. Und die größte Gnade, die sie ihnen erweisen konnte, war, ihnen dieses Martyrium zu ersparen.

Draußen rief jemand, dass sie endlich rauskommen sollten. Die ersten Fackeln wurden auf das Dach geworfen.

Die Großmutter kam hinter dem Vorhang hervor. Sie hatte Tränen in den Augen, doch ihr Gesicht war entschlossen. Als sie der Mutter das Baby aus dem Arm nehmen wollte, kreischte die Mutter. Die Großmutter schlug ihr die Hand ins Gesicht. Augenblicklich verstummte die Mutter. Die Großmutter nahm das Baby und verschwand mit ihm hinter dem Vorhang.

Erneut rief ein Mann, sie sollten rauskommen. Steine wurden gegen das Haus geworfen. Das Dach begann zu brennen.

Die Mutter legte die Hände auf die Schultern des Jungen, drehte ihn um und …

… griff dem Jungen unter die Achseln und hob ihn hoch … wie schwer er geworden war … sie drückte ihm einen Kuss auf die Stirn … du weißt doch noch, wo der Baum mit dem Versteck steht … lauf, so schnell du kannst … heute und drei weitere Tage … solange bleibst du in dem Versteck … du gibst keinen Laut von dir … du sprichst erst wieder, wenn du dich ganz und gar in Sicherheit wiegst … versprich‘ es … schwöre es auf Ihn … und jetzt lauf …

… und dann schob die Mutter zwei Bretter der Rückwand des Hauses auseinander. Der Junge hatte nicht gewusst, dass sie nicht fest miteinander verbunden waren. Er zwängte sich durch den Spalt und gelangte ins Freie.

Während er über den besten Fluchtweg nachdachte, tötete die Großmutter die Mutter, um auch ihr trotz aller Wut die Qualen und die Erniedrigung zu ersparen. Dann setzte sie sich erschöpft auf den Schemel und weinte hemmungslos. Das, was sie getan hatte, war aus tiefster Liebe geschehen. So falsch es sich auch angefühlt hatte, so richtig war es gewesen. Sie, die alte und abgearbeitete Frau, würden die Männer nicht nehmen. Der Erstbeste würde sie töten. Sie hoffte auf einen schnellen Tod.

Während die Großmutter ihren Frieden mit sich machte, lief der Junge los. Er ließ das brennende Haus hinter sich und verschwand im Maisfeld.

Oliver
Das Kaffeetrinken mit meinen Nachbarn endete abrupt. Nach einem kurzen Moment des Schweigens stand ich auf, bedankte mich für den Kaffee und verließ mit dem gefüllten Milchkännchen das Haus. Ich fragte mich, weshalb Jens so hitzig reagiert hatte, denn schließlich hatte ich meinen Einwand in freundlichem Ton geäußert. Der Gute war wohl etwas empfindlich.

Zuhause stellte ich das Milchkännchen in den Kühlschrank. Anschließend ging ich ins Wohnzimmer, um meinen Laptop hochzufahren und zu schauen, ob im Internet etwas Interessantes über das tote Feldstück zu finden war. Ich sah, dass die Terrassentür offen stand. Ich erschrak, doch dann entdeckte ich die an die Rotbuche gelehnte Leinwand und erinnerte mich, dass ich sie vorhin dort hatte stehen lassen. Offensichtlich hatte ich im Durcheinander meiner Gedanken vergessen, die Terrassentür zu schließen.

Ein rascher Blick durchs Wohnzimmer gab mir die Gewissheit, dass alles an seinem Platz stand und nichts fehlte. Niemand war hier gewesen, während ich nebenan gewesen war. Es hätte auch anders kommen können, die Unachtsamkeit mit der offen gelassenen Terrassentür durfte mir nicht noch einmal passieren.
Ich trat hinaus in den Garten und ging geradewegs auf die Rotbuche zu, als ich plötzlich wie angewurzelt stehen blieb. Es waren noch einige Schritte bis zum Baum, doch ich war nahe genug, damit mir die Luft wegblieb. Ich traute meinen Augen kaum.

Jemand hatte die Leinwand weiter bemalt. Oder sie hatte sich selbst weiter bemalt. Keine Ahnung, doch was auch immer geschehen war: Die Striche und Formen waren miteinander verbunden worden und weitere schwarze Pinselstriche waren hinzugekommen. Und dann waren da noch rote und gelbe Striche am oberen Rand.

Mir wurde schwindelig. Verdammt, was war hier los?

Junge
Die Sonne brannte vom Himmel. Der Junge hatte stechenden Durst und mit jedem Schritt wurde er schwächer. Er taumelte über die Wiese in Richtung des dicksten Baums, den er entdecken konnte. Dort gab es zumindest ein wenig Schatten.

Wenn er doch bloß wüsste, wohin er gehen musste, um auf gute Menschen zu treffen, die sich um ihn kümmerten.

Der Junge hatte gelernt auf seine Schritte zu achten, wenn er neben festen Wegen ging. Doch jetzt war sein Blick trüb und die Gedanken waren langsam. Er sah den Kaninchenbau zu spät, um den Fuß noch umzusetzen. Der Junge trat in das Loch, der Fuß knackte und der Schmerz jagte wie ein Blitzschlag durch seinen Körper. Mit einem Aufschrei ging er zu Boden und es schien den feststeckenden Fuß in zwei Teile zu reißen. Dem Jungen wurde schwarz vor Augen. Fast verlor er das Bewusstsein. Ihm wurde schlecht. Der Schmerz war kaum auszuhalten. Der Junge jaulte. Panik überkam ihn. Der Fuß, was war mit seinem Fuß?

Trotz der Hitze fror der Junge. Er umfasste seinen Unterschenkel und versuchte, den Fuß rauszuziehen. Es ging nicht, es tat zu sehr weh. Der Junge weinte. Wo war die Mutter, warum half sie ihm nicht?

Nach einiger Zeit hatte der Junge sich soweit beruhigt, dass er neuen Mut fand, den Fuß aus dem Erdloch zu ziehen. Es gelang ihm unter den größten Schmerzen, die er je gespürt hatte. Der Fuß war dicker und hatte eine andere Form als gewöhnlich. Er pochte wie wild.

Der Junge versuchte aufzustehen, doch es gelang ihm nicht. Er konnte den Fuß nicht belasten, es tat zu sehr weh. Der Junge war wütend und verzweifelt zugleich. Die Sonne kannte keine Gnade. Der Durst war brutal. Die Einsamkeit stach dem Jungen mitten ins Herz. Schluchzend drehte er sich auf den Rücken und legte die Hände aufs Gesicht.

Er was sicher, dass bald die wilden Tiere kommen und ihn fressen würden.

Andreas Richter

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