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27. April 2020

Mäuse im weißen Umschlag

von Gabriela Lürssen

Ich hatte es fast geschafft. Morgen, am Sonntag, sollte es endlich soweit sein. Die Einladungskarten hatte ich bereits vor Wochen geschrieben. Viele Verwandte hatten zugesagt und wollten mit mir und meinen Eltern meine Konfirmation feiern.

Ein dunkelblauer Hosenanzug und eine weiße Bluse hatte ich zusammen mit meinen Eltern bereits vor fünf Wochen gekauft. Mein Vater versuchte mir erst gar nicht ein Kleid anzudrehen.

Meine Eltern und ich gingen am Samstag relativ früh zu Bett. Der Wecker war
auf fünf Uhr gestellt, denn wir mussten noch zwei Käseigel zubereiten und die Mini-Frikadellen wollten auch gebraten werden. Außerdem warteten zwei Biskuitböden auf ihre Füllung. Meine Mutter und ich hatten das alles schon oft gemacht, aber noch nie in so großen Mengen, deshalb waren wir überrascht, dass alles so gut klappte. Meine Mutter wollte noch einen letzten Blick ins gedeckte Wohnzimmer werfen und ich verzog mich in mein Zimmer.
„So, ihr zwei, wir müssen uns umziehen. Es ist schon neun Uhr“, rief meine Mutter.
„Bin schon dabei“, antwortete ich.
„Hans, bist du auch so weit? Wo bist du denn?“, fragte meine Mutter und suchte meinen Vater, „sag mal, was machst du da? Wir müssen gleich los.“
„Ich spiele gerade die Schachpartie aus der Zeitung nach. Diese ist so …“, sagte mein Vater seelenruhig.
„Hans, das kannst du gern morgen machen. Die Kirche und der Pastor warten nicht ewig“, unterbrach ihn meine Mutter.
„Ist ja gut. Hast du mir mein Zeug rausgelegt?“
„Natürlich, ich kenne dich ja.“
Meine Mutter und ich warteten auf meinen Vater, der sich noch im Badezimmer umzog.
„Wow, du siehst super aus, Papa. Kleider machen eben doch Leute“, sagte ich, als mein Vater das Badezimmer verließ und umhüllt von einer ungewohnten Duftwolke zu uns kam.
Wir verließen die Wohnung und gingen zur Kirche, die nur 500 Meter entfernt von unserer Wohnung lag. Die Sonne schien und es war für den Apriltag und die relativ frühe Uhrzeit schon angenehm warm.
Nach der Konfirmation gingen meine Eltern, meine Geschwister und ihre Familien sowie ich in ein naheliegendes Restaurant zum Essen. Kaffee und Kuchen sowie das Abendessen sollte es bei uns zu Hause geben.
Kurz vor 15 Uhr klingelte es an der Tür. Die ersten Tanten und Onkels kamen. Einige hatte ich so lange nicht mehr gesehen, dass ich über ein „Du bist aber groß geworden“ nur schmunzeln musste.
„Oh, das habt ihr aber schön gemacht“, sagte Tante Elisabeth zu mir, „und die Blumen, nee, wie hübsch.“
„Ja, Mama mag solche Arbeiten.“
Und schon klingelte es wieder. Kurz nach 15 Uhr waren alle eingeladenen Gäste eingetroffen. Die meisten übergaben meiner Mutter einen Blumenstrauß, sie schnupperte immer daran und sagte jedes Mal: „Oh, wie schön“. Ich bevorzugte die ganz besonderen Geschenke, die mir fast immer zusammen mit einer mehr oder weniger hübsch verpackten Pralinenpackung übergeben wurden. Meine Augen sahen immer sofort, wo sich diese weißen Briefumschläge befanden. Ich hatte mir natürlich schon vorher ausgemalt, wie viel Inhalt diese Umschläge wohl beherbergten. Für zwei Jahre Konfirmandenunterricht sollte die Entschädigung schon entsprechend hoch sein.
„Es sind ja schon alle da“, stellte Onkel Erich fest.
„Und wie liebevoll alles dekoriert ist“, ergänzte seine Frau.
„Setzt euch, wo ihr wollt. Wir haben ex­tra keine Platzkarten aufgestellt. Nur unser Ehrengast und wir möchten gern hier vorne sitzen“, sagte mein Vater. Ich fragte mich im Stillen, woher er das mit den Platzkarten wusste. Wir hatten nie darüber gesprochen.
Ausnahmslos alle Gäste waren festlich gekleidet. Nicht übertrieben, aber dem Anlass entsprechend. Meine Tanten sahen teilweise aus, wie frisch der Trockenhaube entsprungen. Die Onkels bevorzugten ihr teilweise schütteres Haupthaar mit Frisiercreme entsprechend zu modellieren. Was mehr oder weniger gut gelungen war.
„Ich freue mich, dass ihr alle gekommen seid“, sagte meine Mutter, die mit einem Tablett Sektgläser ins Wohnzimmer gekommen war und es auf dem Tisch abstellte. „Nehmt euch bitte ein Glas. Für die Kinder habe ich Orangensaft.“
„Lange Rede, gar kein Sinn. Ich wünsche dir, mein Schatz, und deinen Gästen eine schöne Feier“, sagte mein Vater stehend, „also, auf die Konfirmandin und Prost!“
Nachdem sich alle Gäste zugeprostet und gesetzt hatten, stellten meine Mutter und ich Kaffee, Tee, Kakao und Kuchen auf die Tische, die in U-Form aufgestellt waren.
„Ich wünsche euch einen guten Appetit und lasst es euch schmecken“, sagte meine Mutter, während einige Gäste schon Kuchen aßen.
Der Geräuschpegel im Wohnzimmer war ähnlich dem des Hauptbahnhofs. 36 Erwachsene, die sich unterhielten, und sechs Kinder, die spielten, waren schon eine wirkliche Belastung für die Ohren.
Ich beobachtete meine Tanten, die alle kerzengerade auf ihren Stühlen saßen. So saß sonst keiner mehr, weder in der Schule noch sonstwo. Einige Dauerwellen waren wahrscheinlich erst in der vergangenen Woche gemacht worden, wenn nicht sogar erst am gestrigen Samstag. Graue Ansätze waren nicht zu sehen, dafür waren gefühlt Tonnen von Haarspray verwendet worden. Goldene Ketten und passende Ohrringe schienen wohl zur Grundausstattung meiner Tanten zu gehören. Manche trugen noch dazugehörige Armbänder. Das war zwar nicht mein Geschmack, aber ich war schon ein wenig stolz und berührt, dass sich alle für mich, davon ging ich einfach mal aus, so aufgehübscht hatten. Damit hatte ich nicht gerechnet. Allerdings sahen sie schon etwas wie blinkende Weihnachtsbäume aus. Aber auch meine Onkels wurden von mir beobachtet.
„Mama, die Anzüge von Onkel Erich und Onkel Georg haben auch schon viele Feiern gesehen, findest du das nicht auch?“, fragte ich leise meine Mutter, die neben mir am Kaffeetisch saß.
„Ja, die könnten bestimmt viel erzählen“, antwortete meine Mutter, „ich glaub‘, den Anzug hatte Onkel Georg schon zu seiner Hochzeit an.“
Nach dem Kaffeetrinken wurde die Stimmung ein wenig lockerer. Der eine oder andere stand auf. Ich überlegte mir, ob die Hosenlänge meiner Onkels vom zu heißen Waschen kam oder ob die in ihrem Alter noch gewachsen waren. Die Frage blieb unbeantwortet. Der eine oder andere zog jetzt sein Jackett aus. Die weißen Hemden waren alle exakt gebügelt. Allerdings war das Hemd von Onkel Erich eindeutig ein paar Nummern zu groß.
„Schau mal, Papa, hat Onkel Erich abgenommen? Sein Hemd ist doch echt zu weit.“
„Ja, du hast recht. Im Gesicht sieht er auch etwas hager aus. Er erzählte mir vor zwei Monaten, dass ihm sein Arzt eine andere Tablette verschrieben hat. Vielleicht ist die für den Gewichtsverlust verantwortlich. Ich frage ihn später.“
Ich schaute mir wieder meine Gäste an. Wie angeregt die sich unterhielten. Ich entschloss mich, kurz mal das Wohnzimmer zu verlassen und in mein Zimmer zu gehen. Das Innenleben der Umschläge musste ja noch genauer von mir betrachtet werden. Nach einem ersten Check stellte ich fest, dass es für den gewünschten Fernseher reichte und ich sogar noch etwas sparen könnte. Meine Mutter hatte mir vorher schon erklärt, dass ich auf jede Karte den Geldbetrag schreiben sollte, den ich geschenkt bekam, so könnte ich die Danksagungskarten dann entsprechend formulieren.
Für die Schreibarbeit hatte ich heute aber keine Zeit. Ich ging zurück ins Wohnzimmer. Bereits auf dem Flur erreichte mich wieder der Geräuschpegel, der einem startenden Flugzeug ganz nah kam. Wenn es allerdings ein Flugzeug gewesen wäre, dann müsste jetzt die Feuerwehr zum Löschen erscheinen, so wie es nach Rauch und Qualm roch. Bestimmt die Hälfte meiner Gäste war Raucher. Manche wohl auch Kettenraucher. Besonders meine Onkels waren dem Nikotin nicht abgeneigt.
Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, sah ich, wie sich meine beiden älteren Geschwister, mein Schwager und meine Schwägerin angeregt unterhielten, während meine Nichten und Neffen auf dem Teppich spielten.
Meine Eltern stellten Brause und Saft, aber auch Weinbrand, Wein und die restlichen Sektflaschen auf den Tisch. Die Gläser hatten sie gestern schon auf einen Beistellwagen gestellt, den sie heute einfach nur ins Wohnzimmer schieben mussten. Schnell kam meine Schwester und übernahm die Verteilung der Gläser.
„Oma, hast du keine Chips?“, fragte der sechsjährige Sven meine Mutter.
„Doch Liebling, ich hol‘ sie dir sofort“, erklärte meine Mutter.
„Laura, habt ihr auch einen trockenen Roten?“, fragte Onkel Peter meine ältere Schwester.
„Klar.“
Das Wohnzimmer wurde immer mehr zu einer Mischung aus Dom, Kindergarten und Raucherkneipe. Die männlichen Gäste hatten fast alle ihre Krawatten gelockert. Einer hatte sie ganz abgelegt. Die Musik tat das übrige dazu, um den Lärmpegel zu erhöhen.
Mittlerweile war jeder Gast bestimmt schon einmal aufgestanden. Einige gingen auf den Balkon, andere in Richtung Toilette. Das sah so ein wenig aus wie ein Bahnhofsklo mit Warteschlange. Von gemütlichem Zusammensitzen und Feiern war hier kaum etwas zu spüren. Meine Mutter schaute auch ein wenig überrascht und verwirrt in die Runde. Ein paar Gäste machten Fotos. Viele wollten ein Bild mit mir. Das sollten sie bekommen, war ja mein Ehrentag.
Gegen 18 Uhr war bei vielen weiblichen Gästen nicht mehr viel von einem gepflegten Äußeren zu sehen. Zum Beispiel glänzte der blaue Lidschatten von Tante Elisabeth wie Alufolie. Die schwarze Farbe ihrer Wimpern lief ihr über die Wangen. Geschuldet war diese neue Optik der Wärme, die im Wohnzimmer herrschte, obwohl die Balkontür die ganze Zeit geöffnet war.
Aber auch die männlichen Gäste veränderten ihre Optik. Das eine oder andere Polyesteroberhemd wurde durch zunehmend körperliche Ausdunstungen leicht durchsichtig. Dadurch veränderte sich auch der Geruch im Wohnzimmer auf eine Art, die ich doch als sehr beißend empfand.
Gegen 19 Uhr brachten meine Mutter und meine Tante Hanne die kalten Wurst- und Käseplatten, Salate, die Käseigel, die in Scheiben zerschnittenen Meterbrote und die beiden Partysonnen ins Wohnzimmer. Meine Mutter hatte für dieses Buffet extra auf einer Anrichte Platz geschaffen. Hätten wir geahnt, dass die Gäste so aktiv sind, hätten wir auf das Buffet verzichtet und kleinere Platten auf den Tischen verteilt oder die Meterbrote gleich belegt. So mussten alle Gäste mindestens einmal zur Essensausgabe gehen, was zusätzlich eine große Unruhe im relativ kleinen Wohnzimmer erzeugte.
Woran meine Mutter wohl nicht gedacht und auch nicht damit gerechnet hatte, war die Ungeschicklichkeit einiger Gäste, die zum großen Teil männlich waren. Das Auffüllen von Salat, Tomaten und Gewürzgurken war für einige ein echtes Problem. Das Buffet sah nach kurzer Zeit wie ein Schlachtfeld aus.
„Hans“, sagte meine Mutter, als mein Vater mit seinem überladenen Teller wieder an den Tisch kam, „ich habe dich beobachtet. Wenn du mal am Buffet so geschickt wärst wie beim Schach spielen, dann …“
„Wieso? Ich hab‘ doch gar nichts gemacht.“
„Eben.“
„Nee, bei der nächsten Feier machen wir das anders. Ich versuche das mal ein wenig zu richten, wenn die alle wieder sitzen.“
Von dem hübsch und mit viel Liebe gedeckten Tisch war nicht mehr viel übrig. Zwei Rotweingläser waren umgefallen und verliehen der gestärkten weißen Tischdecke ein interessantes Muster. An anderer Stelle ging die Schokolade eine innige Beziehung mit der Cola ein. Einige Krawatten lagen bereits auf dem Tisch. Das war nicht schön, aber für die Krawatten immer noch besser als im Fleischsalat zu baumeln.
„Erich, sind da hinten noch gefüllte Eier?“, fragte Tante Gerda in einer Lautstärke, die alle anderen verstummen ließ.
„Eines ist hier noch. Peter, gibt das mal Gerda“, sagte Onkel Jochen, nahm das Ei in die Hand und gab es weiter. Ich, meine Eltern und die anderen Gäste schauten Onkel Jochen wegen seiner Art der Weitergabe verwundert an. Tante Elisabeth sah man an, wie sie sich über diese Aktion ekelte.
„Sagt mal, haben da einige schon zu viel getrunken? Können wir nicht die Veranstaltung langsam auslaufen lassen?“, fragte ich meine Eltern.
„Ich bin auch ziemlich überrascht über das Verhalten. Früher haben die sich nicht so benommen.“
„Schatz, vielleicht fühlen die sich hier so wohl“, erklärte mein Vater.
Chips, Salzstangen und Nüsse, die seit dem Abdecken des Kaffeegeschirrs auf den Tischen standen, zeigten, dass sie wirklich frisch waren. Einzelne Krümel waren sogar auf die Fensterbank gesprungen, andere machten ihren Freischwimmer im Brauseglas.
Ich ging zu meinen Geschwistern, die zusammen an einer Ecke des Tisches saßen und sich unterhielten.
„Wisst ihr, was mit denen los ist? Waren die immer schon so? Ist mir sonst nicht aufgefallen. Okay, ich habe die auch noch nie alle so zusammen erlebt.“
„Darüber haben wir auch gesprochen. Vielleicht freuen die sich auch nur, dass sie alle noch leben und finden das hier total gemütlich“, sagte mein Bruder, „wir wollten auch gleich gehen, die Kinder müssen ins Bett.“
„Ja, macht das. Vielleicht hauen die anderen dann auch ab. Wir müssen ja schließlich noch aufräumen und morgen ist wieder Schule.“
„Sollen wir noch helfen?“, fragte meine Schwester.
„Nein, ich glaub‘ wir erreichen mehr, wenn ihr gleich geht. Und übrigens, danke für das Geld. Seid ihr wahnsinnig? So viel!“
„Für dich opfern wir unser letztes Hemd, Küken. Kauf‘ dir deinen Fernseher.“
„Ich hab‘ euch lieb“, sagte ich und merkte, wie mir und meinen Geschwistern Tränen in die Augen schossen.
„So Kinder, packt mal eure Sachen zusammen, wir wollen in fünf Minuten nach Hause“, sagte mein Bruder und zwinkerte mir zu. Gegen 21 Uhr hatten auch die letzten Gäste die Feier verlasen. Da sich meine Tanten und Onkels ausgiebig mit meinem Vater unterhielten, hatten meine Mutter und ich uns schon vor einer Stunde unbemerkt in die Küche geschlichen, um das meiste Geschirr abzuwaschen. So brauchten wir jetzt nur noch die restlichen Gläser zu spülen.
Wir gingen schlafen.
Eine Woche später kaufte ich mir meinen Fernseher. Er war ungefähr 30 bis 40 Zentimeter im Durchmesser. Das Gehäuse war silberfarben. Natürlich noch ohne Fernbedienung. Aber groß genug, um dienstags J.R., Bobby und Pamela zu sehen.

Liebe Leserin, lieber Leser, Sie werden sicherlich schon vermutet haben, dass dieses meine eigene Geschichte ist.
Als Teenager und Konfirmandin war es natürlich schön im Mittelpunkt zu stehen, auch wenn mich die weißen Umschläge mit dem besonderen Inhalt schon sehr interessierten. Mittlerweile sind sie mir egal – naja, fast. Einige Karten von lieben Verwandten habe ich aufbewahrt. Wenn ich sie jetzt lese, dann denke ich sofort zurück an Partysonnen, Käseigel und eine schöne Feier. Manchmal bekomme ich feuchte Augen und muss dankbar lächeln.
Familienfeiern wie Konfirmationen, Hochzeiten und Co. kann uns dieser überflüssige Virus dieses Jahr vielleicht nehmen. Die Gedanken an die Lieben und die Hoffnung auf die nächste Feier aber ganz sicher nicht.
Und mal ehrlich, wer braucht Krawatten im Fleischsalat?

Ihre Gabriela Lürßen

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