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7. Dezember 2022

Kettenreaktion

Kurzgeschichte von Marlis David zum Thema „HELDEN“

Die Entscheidung, über Heldentaten zu berichten, fällt mir sehr schwer. Frauen setzen ganz andere Prioritäten als Männer. Es gibt für Frauen so viele Alltagshelden, aber für Männer zählen meist nur die großen Helden. Kriegshelden, Fußballhelden, Sporthelden.

Vor ein paar Wochen las ich in einer Zeitung eine Geburtsanzeige, die mich sehr berührte. Ist doch die Geburt eines Kindes für Frauen schon allein ein kleines Weltwunder, eine persönliche Heldentat.

WELCOME LITTLE ONE
Genieße deine Kindheit, klettere auf Bäume, springe in Pfützen und benutze deine Fantasie. Bleib heimlich ganz lange wach, entdecke Tiere in den Wolken, baue Sandburgen und lasse Drachen steigen. Dreh dich, bis dir schwindelig wird, und hintelasse Spuren im Schnee. Sei laut, sei vorwitzig, aber sei immer du selbst! Sei glücklich und lass deine Träume wahr werden.“
Wir haben dich so unendlich lieb.

Mama und Papa

 

Auch wenn sich für das kleine Mädchen nicht alles erfüllen wird, ist es doch eine zauberhafte Idee, die es im Leben begleiten wird.

Mich hat der Text emotional sehr berührt und traurig gestimmt. Sofort dachte ich wieder an meine Mutter. Sie weinte so viel und hat es nie verkraftet, dass ihre Mutter, meine Oma, bei einem Bombenangriff der Engländer auf Düsseldorf, im Keller ihres Hauses umgekommen ist. Nun liegt sie auf dem Heldenfriedhof, zusammen mit all den anderen Bewohnern ihres Hauses. Nur Großvater hat überlebt, da er durch ein Loch in der Wand zum Nachbarhaus gekrochen ist, um nachzusehen, ob es dort Verletzte gegeben hatte. Er stand gerade vor dem Haus, als die Bombe sein Haus traf. Er sah alles in Flammen niederbrechen und erlitt einen Schock. Nie wieder hat er sich davon erholt und verstarb, nach drei Schlaganfällen, vier Jahre später.

Mein Bruder und ich haben meine Mutter viel weinen sehen. Die vielen Menschen, die damals im Krieg umgekommen sind, genau wie die, die aktuell in den Kriegsgebieten weltweit sterben, zählen für mich zu den Helden. Mein Vater liegt in Hamburg auf dem Friedhof für gefallene Soldaten. Soweit mein Auge reicht, ist es die letzte Ruhestätte für Soldaten verschiedener Länder, oftmals in fremder Erde.

Vor dreißig Jahren war ich in Verdun in Frankreich. Wir haben dort die Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges besucht. Dort stehen weiße Kreuze bis zum Horizont – jedes einzelne für einen gefallenen Soldaten. Meist noch junge Männer, deren Leben noch nicht begonnen hatte. Das sind für mich Helden und sie liegen zu Recht auf dem Heldenfriedhof. Auf einer kleinen Platte las ich die Gravur: „Seit Deine Augen sich geschlossen haben, haben die meinen nicht aufgehört zu weinen!“
Deine Mutter

Das hat mich zutiefst berührt. Es blühen keine Blumen mehr auf dieser verbrannten Erde. Wenn man dort steht, möchte man nur noch weinen und stellt sich Fragen: Warum? Wofür?

Allen Lesern dieser Zeilen wünsche ich ein schönes, friedliches Weihnachtsfest mit der Hoffnung im Herzen, dass es so bleiben möge und die heute geborenen Kinder nur FRIEDEN erleben dürfen.

Marlis David

 

Marlis David,
geboren 1940 in Hamburg, war nach kaufmännischer Ausbildung in mehreren großen Firmen tätig. Im Ruhestand widmet sie sich ihrem Hobby, dem Schreiben. Es bedeutet für sie Glück und Berufung. Im Jahr 2011 veröffentlichte sie zwei Bücher mit Kurzgeschichten. Auch in verschiedenen Anthologien sind Kurzgeschichten von ihr zu finden. Zu Weihnachten konnte man Geschichten von ihr im Radio hören.