Vielsagende Blicke Sommernachtstraum in Tegel
Kurzgeschichte von Marlis David
Er ist schön. Ist scheinbar aber nie dem Ruf der Wildnis gefolgt, sondern sitzt allein auf dem Bürgersteig und wartet auf liebevolle Berührungen. Nachts, wenn im Kopf die Lust erwacht, greift ein Albtraum mit langen Krallen, der sich in uns festbeißt, bis wir vor Wonne schreien, schwitzen, glänzen im banalen Strahl einer Taschenlampe. Bis wir endlich merken: Es ist gar kein Horror, es ist unsere Angst, die wir spüren. Kein diabolisches Gelächter, nur die pure Angst vor der Ungewissheit!
Hat er gerochen? Gebissen? Nein, er hat nur gewartet. Vielleicht hat er sich sein Glück gesucht, wenn er allein war, und geholt – irgendwo!
Und jetzt war da diese Frau. Erst sprach sie kein Wort. Dann setzte sie sich ganz nah zu ihm im Schneidersitz und schob ihre Sonnenbrille ins Haar. Hockte einfach dort, in ihrer Sommerbluse, der schwarzen Jeans und Jacke. An den Füßen offene Sandalen, die jetzt von seinen Händen berührt werden. Das war okay so, sein Gegenüber wollte es so. Sie sahen sich an, sprachen kein Wort, aber tauschten vielsagende Blicke.
Der reine Wahnsinn! Niemals, ich schwör’s, hätte ich geglaubt, dass diese Bilder mitten in Berlin lebendig werden könnten.
Sie lehnte sich an ihn, als würde sie ihn seit Ewigkeiten kennen. Keine Ahnung, was ihr passiert war. Vielleicht gut, es nicht zu wissen, so konnte ich es nicht hinterfragen.
Tatsächlich sprachen sie kein Wort. Aber sie lächelte so lieb, unvoreingenommen.
Mag sein, es hätte der Anfang einer Romanze oder innigen Freundschaft werden können, wäre der Schöne nicht aus schwarzem, glänzendem, gemeißeltem Marmor gewesen. Aber auf meiner Fotografie bei Nacht sah er lebendig wie ein wunderschöner großer Orang-Utan aus.
Es war ihm nur eine zärtliche Berührung vergönnt, aber der Sommer hat ja gerade erst begonnen.
Marlis David
Marlis David,
geboren 1940 in Hamburg, war nach kaufmännischer Ausbildung in mehreren großen Firmen tätig. Im Ruhestand widmet sie sich ihrem Hobby, dem Schreiben. Es bedeutet für sie Glück und Berufung. Im Jahr 2011 veröffentlichte sie zwei Bücher mit Kurzgeschichten. Auch in verschiedenen Anthologien sind Kurzgeschichten von ihr zu finden. Zu Weihnachten konnte man Geschichten von ihr im Radio hören.