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18. Februar 2022

Totes Feld (Teil7)

Thriller von Andreas Richter

Rückblick – so endete Teil 6:

Oliver
Keuchend stand ich da, nach vorne gebeugt, die Hände auf den Knien, und sah auf das leblose Stück Land. Was machte ich hier?

„Wieso bin ich hierher gelaufen, ohne darüber nachzudenken?“, murmelte ich. Ich richtete mich auf. „Warum fühle ich mich von dir angezogen, tote Erde? Fast glaube ich, du willst was von mir. Möchtest du etwa dein Geheimnis mit mir teilen?“

Das Feld antwortete nicht und ich erhielt auch sonst keine Reaktion. Natürlich nicht. Doch ich spürte, dass es irgendeine Verbindung zwischen dem Feld und mir gab.

Ich kannte sie bloß noch nicht.

 

Oliver
Während des ganzen Tages kreisten meine Gedanken um zwei Dinge: Um meinen gestrigen Absturz und um das tote Feld. Beides ließ mich nicht mehr los. Wenigstens hatte ich kein Verlangen nach Alkohol, auch wenn ich mir ein kaltes Bier gut vorstellen konnte. So wie es schien, hatte ich die Sache im Griff.

Doch was war mit dem toten Feld, weshalb zog es mich so an? Ich fragte mich, weshalb ich das Haus in unmittelbarer Nähe des toten Feldstücks gekauft hatte. Reiner Zufall? Möglich. Oder war es Schicksal oder etwa Fügung gewesen? Vielleicht. Und schließlich war da noch die unbeantwortete Frage, weshalb ich überhaupt malte, oder präziser: aus welchem Grund ich wirklich malte.

 

Junge
Das Gesicht des Jungen war blass und die Wangen waren eingesunken. Er atmete flach und unregelmäßig, die Lunge rasselte. Er verspürte keinen Durst und keinen Hunger mehr. Obwohl die Augen geschlossen waren, sah er sie. Die Mutter und den Vater mit den Zwillingen an den Händen. Die Großmutter, die Kleine auf dem Arm haltend. Sie schwebten nebeneinander im weißen Nichts und betrachteten ihn. Wie friedlich alle aussahen.
Der Vater öffnete den Mund nicht, doch seine ruhige Stimme drang tief in das getrübte Bewusstsein des Jungen: Du musst den Menschen von uns erzählen.

Ja, Vater. Doch wie soll ich das tun?

Es gibt immer einen Weg, du musst ihn bloß finden.

Ja, Vater. Mutter?

Die Mutter neigte den Kopf.

Ich möchte dort sein, wo ihr seid. Jetzt.

Die Mutter streckte ihm die Hand entgegen. Sie lächelte. Der Junge nahm einen letzten Atemzug, dann machte er sich auf.

Oliver
Es dauerte eine Zeit, bis ich mich an den Namen des Therapeuten erinnerte. Bereits seit längerem hatte ich es nicht mehr so sehr mit den Namen von Personen, mit denen ich nicht regelmäßig sprach, was möglicherweise auf das jahrelange schwere Trinken zurückzuführen war. Nachdem ich mir mehrere Gedankenbrücken gebaut hatte, fiel er mir wieder ein. Teichmann. Ich rief die Tagesklinik an, in der ich nach dem ersten Entzug im Rahmen der Kunsttherapie die Malerei wiederentdeckt hatte.

Die freundliche Dame sagte mir, sie könne mich jetzt leider nicht zu Herrn Teichmann durchstellen, doch sie würde ihm einen Rückruf einstellen.

„Bitte richten Sie ihm aus, dass es dringend ist.“

„Selbstverständlich“, sagte sie und wünschte mir noch einen schönen Tag. Der war jedoch nicht mehr allzu lang, denn es ging bereits auf siebzehn Uhr zu und ich hatte Zweifel, dass Teichmann heute noch zurückrufen würde. Doch da ich die Zeit bis dahin nicht ungenutzt verstreichen lassen wollte, entschloss ich mich bei Jens zu klingeln. Es war mir noch nie schwergefallen, für Dinge, die ich verbockt hatte, um Entschuldigung zu bitten. Und da ich Jens beim Kaffeetrinken offenbar auf den Schlips getreten war, war es ein Leichtes, ihm zu sagen, dass es mir leid täte. Umso mehr, da ich ihn brauchte.

Jens öffnete die Tür und ich sagte ihm, mein Ton sei ruppiger gewesen als beabsichtigt, das sei nicht so gemeint gewesen und es wäre schön, er würde mir verzeihen. Er nickte und wir gaben uns die Hand. Die Sache war abgehakt. Ich sagte: „Ich möchte mit dir puzzeln.“

Er sah mich verwundert an.

„Ich erkläre es dir. Darf ich reinkommen?“
Jens trat zur Seite. Nachdem ich eingetreten war, drückte er die Tür zu.

„Es geht um das tote Feld“, sagte ich. „Mit deinen Recherchen hast du bereits viele Puzzleteile zusammengefügt, doch du sagst selbst, dass noch einige fehlen. Ich möchte gemeinsam mit dir herausfinden, was geschehen ist. Ist der Boden bereits seit dem Überfall auf die Familie tot? Deine Frau sagt, der Boden sei verflucht – liegt sie damit womöglich richtig? Lass‘ uns gemeinsam die fehlenden Puzzleteile finden, Jens.“

Jens musterte mich einen Moment lang. Dann: „Warum gemeinsam?“

Ich hatte mit der Frage gerechnet. „Ich wohne hier und das Feld fasziniert mich. Wie ich neulich erzählte, ist mein Hobby die Malerei. Ich möchte die Geschichte des toten Feldes malen, damit sie allen erzählt wird. Doch das kann ich nicht alleine, Jens, sondern nur gemeinsam mit dir.“

Jens sagte nichts, doch in seinen Augen sah ich, dass er mehr als bloß einverstanden war.

 

Junge
Die Frau war den Krähen gefolgt. Als sie sah, was sie fraßen, verscheuchte sie sie. Nun stand sie neben dem Jungen und betrachtete ihn. Die Krähen hatten zahlreiche Löcher in den Körper gerissen. Die Wut der Frau auf den Jungen war längst verraucht. Zumal sie selbst schuld war, dass sie ihn nicht an die unfruchtbare Herrin hatte verkaufen können. Sie hatte den Jungen unterschätzt, nicht mit seinem Angriff gerechnet. Er war ein Kind gewesen, doch er hatte das Herz und die Entschlossenheit eines Mannes gehabt. Wie wohl alles gekommen wäre, hätte sie entschieden ihn zu behalten. Vermutlich hätte er ihr genutzt, wäre mit der Zeit zu einem guten Arbeiter und ausdauernden Liebhaber herangewachsen. Doch es führte zu nichts, darüber nachzudenken. Der Junge war tot. Wegen ihr. Die Flucht hatte sein Ende bedeutet. Der Fuß sah schlimm aus, vermutlich war der Junge in einen Bau getreten und hatte anschließend nicht mehr gehen können, um dann ohne Wasser, Nahrung und Hoffnung erst die Kraft und schließlich den Lebenshunger zu verlieren. Möglicherweise würde er noch leben, wenn sie sich gleich nach seiner Flucht auf die Suche gemacht hätte. Er war nicht allzu weit gekommen und das flache Land bot kaum Verstecke, erst weiter hinten im Wald hätte sie ihn möglicherweise nicht mehr gefunden.

Dem Ausdruck des zarten Gesichts nach zu urteilen, war der Junge ohne Angst gestorben. Das war gut. Die Frau seufzte und sagte sich, dass der Junge ein anständiges Grab bekommen sollte, in dem er in Frieden ruhen konnte. Das war das Mindeste, was sie ihm schuldete.

 

Oliver
Jens und ich standen neben der Leinwand und ich sah ihm an der Nasenspitze an, dass er sich fragte, was es mit der Handvoll Striche und Kreise auf sich hatte.

„Ich habe mit dem Bild gerade erst begonnen“, sagte ich mit gespielter Bitte um Nachsicht.

„Habe ich mir fast schon gedacht“, murmelte er.

„Ehrlich gesagt, weiß ich noch nicht, was gemalt werden muss. Ich weiß ja nicht mal, wie das Haus aussehen soll.“

„Ist das denn noch wichtig, wenn es brennt?“

Ich warf Jens einen verwunderten Blick zu. „Das Haus brennt?“

Jens deutete auf die roten und gelben Striche am oberen Rand. „Na, das sollen doch Flammen darstellen, oder nicht?“

Mir blieb die Luft weg. Ich war nicht mal auf die Idee gekommen, dass es sich um Flammen handeln könnte. Unfassbar, dass Jens etwas erkannte, was ich nicht mal beachtet hatte. „Wurde das Haus denn abgebrannt?“, fragte ich.

„Dazu habe ich nichts herausgefunden. Doch es könnte so gewesen sein, umso mehr, dass der Überfall möglicherweise auch eine Botschaft war, sich besser nicht mit den Wahren anzulegen oder sich ihnen nicht zu widersetzen.“

Ich verspürte das Verlangen, nach dem Pinsel zu greifen und ein brennendes Haus zu malen – und dazu einen Drink zu nehmen. Oder auch zwei. „Vermutlich ist die ganze Familie in den Flammen umgekommen“, murmelte ich.

„Das glaube ich eher nicht“, sagte Jens. „Das wäre wohl nur in der Nacht geschehen, während alle geschlafen hätten. Und selbst dann wäre mindestens eine Person von den Flammen wach geworden. Nicht zu vergessen, dass zur damaligen Zeit die Nacht wirkliche Dunkelheit bedeutete, insbesondere außerhalb der Stadt. Auf dem Weg zum Haus hätten lediglich die Sterne und der Mond Licht gespendet, und das auch nur bei wolkenlosem Himmel. Wenn das Haus tatsächlich in Brand gesetzt wurde, dann vermutlich am Tage, als die Familienmitglieder im Haus waren, vielleicht sogar alle. Das Haus wurde in Brand gesetzt und diejenigen, die rausgekommen sind, wurden getötet. So könnte es gewesen sein.“

Ich knetete die Hände. Zu gerne würde ich mir jetzt einen Schluck genehmigen. „Und wenn es tatsächlich einen Fluch gibt, wie deine Frau vermutet? Etwa den Fluch, dass der Boden, auf dem das Haus stand, solange tot sein würde, bis etwas Bestimmtes geschähe?“

„Weil dann eine Schuld beglichen und somit jemand den Fluch beenden würde?“

„Nun, ich bin kein Experte für Flüche, aber in Filmen funktioniert das so immer“, sagte ich und fragte mich, woher ich auf der Stelle einen verfluchten Drink bekam.

Jens kratzte sich nachdenklich am Kopf und sagte: „Wenn das Pack das Haus am hellen Tag in Brand gesetzt hat, wird es sich rund ums Haus überall dort positioniert haben, wo es Fluchtmöglichkeiten gab. Türen, Fenster. Niemand dürfte es unbemerkt aus dem brennenden Haus geschafft haben.“

„Außer es gab einen Weg aus dem Haus, der nicht als solcher erkennbar war“, sagte ich und wusste kaum, wohin mit meinen Händen. Ein Schluck, nur ein einziger, und ich wäre wieder die Ruhe selbst.

„Einen Tunnel zum Beispiel?“
„Ein Tunnel wäre vielleicht zu abenteuerlich für die damalige Zeit, aber möglicherweise etwas anderes. Eine verborgene Tür oder so etwas, keine Ahnung.“ Ich wippte mit dem Fuß. Das Verlangen nach Hochprozentigem brachte mich fast um den Verstand.

Jens sah mich kritisch an. „Ist alles in Ordnung bei dir?“

Nichts ist in Ordnung, brüllte ich ihn in Gedanken an, sagte aber: „Ich muss jetzt malen, Jens, es kann nicht warten und will raus.“ In Wirklichkeit sah ich mich bereits im Auto sitzen und mit Bleifuß zum nächsten Supermarkt fahren, um Alkohol zu kaufen.

Jens nickte. „Hast du was dagegen, wenn ich dir dabei zuschaue? Ich gehe vorher rasch rüber zu mir und hole uns einen guten Franzosen aus meinem Weinkeller. Was hältst du davon?“

Die Idee war famos, doch ich wollte nicht, dass Jens hier war. Ich wollte unbeobachtet trinken, aber wenn ich ihn jetzt vor die Tür setzen würde, könnte das die Stimmung zwischen uns endgültig verhangeln – und ich war überzeugt, dass ich ihn noch brauchen würde. Also lächelte ich zustimmend.

Jens machte sich auf den Weg. Kaum hatte er das Haus verlassen, griff ich zum Handy und rief das erstbeste Taxiunternehmen an, um mir von irgendwoher drei Sechserträger Bier (egal welches Pils) und drei Flaschen Whiskey (ich nannte drei Sorten, eine davon würde passen) liefern zu lassen. „Lassen Sie alles von dem Fahrer diskret in einem Einkaufsbeutel hinter den Mülltonnen vor dem Haus abstellen“, sagte ich. „Auf der Hinterseite der Biotonne klebt ein Briefumschlag mit zweihundert Euro für die Getränke und die Fahrt. Das passt so, Quittung brauche ich nicht. Hauptsache, die Lieferung klappt schnell und unauffällig.“

Scheiße, dachte ich nach dem Telefonat, du bist in der Beschaffung so kreativ wie eh und je – und das ist weiß Gott nichts, auf das du stolz sein solltest.

 

Junge
Auf dem Weg zum Schuppen trat die Frau auf die Schere. Ihr ging der Gedanke durch den Kopf, dass der Junge damit auf sie hätte einstechen können, als sie benommen auf dem Boden lag, doch er hatte es nicht getan. Er hatte es nicht einmal versucht. Der gute Junge. Sie hob die Schere auf, steckte sie in die Tasche ihres Kleides und ging weiter.

Als die Frau wenig später mit einem Spaten, einem Tuch und einem Brett aus Fichtenholz zurückkehrte, verscheuchte sie die Krähen erneut. Sie umwickelte den Leichnam mit dem Tuch, dann stieß sie den Spaten in die Erde. Es würde anstrengend werden und lange dauern. Der Boden war trocken und hart, es hatte seit vielen Tagen nicht geregnet. Sie hob ein Grab aus, das tief genug war, dass die Wölfe die sterblichen Überreste nicht würden wittern können. Dann legte sie den Leichnam hinein und begann, die Erde zurückzuschaufeln. Immer wieder trampelte sie darauf herum, um das Grab zu verdichten. Nachdem sie fertig war, nahm sie das Brett aus weichem Holz und holte die Schere hervor. Sie kniete sich hin. Im Laufe ihres Lebens hatte sie ein wenig Lesen und Schreiben gelernt, und nachdem sie sich im Kopf die Buchstaben zurechtgelegt hatte, ritzte sie sie mit der Schere in das Brett. Anschließend legte sie es auf das Grab und drückte es leicht in die Erde.

Sie kannte seinen Namen nicht, doch das Grab sollte nicht anonym bleiben. Deshalb hatte sie in ungelenken Großbuchstaben „Junge“ geschrieben.

 

Oliver
Ich schaffte es kaum, den Wein langsam und mit vorgetäuschtem Genuss zu trinken. Jens stand hinter mir und schaute mir über die Schulter. Ich fühlte mich von seinen Augen wie aufgespießt. So gut es ging, konzentrierte ich mich auf die Malerei. Das Haus nahm eine erste Form an.

Mein Handy klingelte. Ich kannte die Nummer nicht, doch ich roch die Gelegenheit. Ohne darüber nachzudenken, sagte ich: „Mein Bruder. Er ist schwer krank. Bestimmt möchte er einfach bloß reden.“ Es erschreckte mich nicht mal, dass ich eiskalt log. Ich war wieder voll drauf.

Jens nickte. „Selbstverständlich. Nimm‘ dir Zeit für ihn.“ Dann verließ er auch schon den Raum und unmittelbar darauf das Haus. Den Wein hatte er nicht mitgenommen. Welch Glück. Ich trank einen schnellen Schluck aus der Flasche, dann nahm ich den Anruf entgegen. Es war Teichmann. Ich hatte fast schon vergessen, dass ich um Rückruf gebeten hatte. Teichmann fragte mich, wie es mir ginge und ich sagte, alles wäre fein. Das freue ihn, sagte er.

Ich kam direkt auf das Thema zu sprechen: „Weshalb wollten Sie mein Versprechen haben, dass ich weiterhin male? Und kommen Sie mir nicht mit therapeutischen Ebenen, geschützten Erfahrungsräumen und inneren Erlebnisdimensionen. Also, warum?“

Teichmann musste mit der Frage gerechnet haben, denn er antwortete umgehend. „Einen Patienten wie Sie hatte ich zuvor noch nie, und das wurde mir erst nach und nach bewusst, wenn ich Sie bei der Malerei beobachtete. Nicht immer, aber manchmal veränderten sich dann Ihre Körperhaltung, Ihre Mimik, Ihre Augen. Selbst die Weise, wie Sie den Pinsel hielten, war dann eine andere.“

„Ich verstehe nicht, was Sie meinen.“

„Wenn das geschah, waren es nicht Sie, der malte. Es war jemand anderes.“

Ich reagierte gereizt. „Ich mag alkoholkrank sein, aber ich wechsle nicht zwischen Identitäten hin und her.“

„Ich spreche nicht von einer multiplen Persönlichkeitsstörung, Herr Bremser. Ich spreche von der Seele eines möglicherweise nicht mehr lebenden Menschen, die sich in Ihrem Innersten eingenistet hat und nun in Ihnen wohnt.“

Ich lachte spöttisch auf. „Ich soll einen toten Untermieter in mir haben?“

„Sie erinnerten sich nicht an jedes Bild, das Sie gemalt hatten“, sagte Teichmann. „Im Rahmen der Therapie haben wir stets über das Bild gesprochen, das Sie zuletzt gemalt hatten, und Sie berichteten, was Sie während der Malerei empfunden haben. Doch es gibt einige Bilder, über die wir nicht sprachen. Weil Sie nicht wussten, dass Sie diese Bilder überhaupt gemalt hatten, denn es war die Stimme der eingenisteten Seele, die Ihre Hand geführt hat.“

Mir fehlten die Worte. Einen Moment lang herrschte Schweigen.

„Ich wollte das Versprechen, damit Ihre Malerei die Stimme der fremden Seele bleibt. Es muss einen Grund geben, dass die Seele sich für Sie als ihre Stimme entschieden hat.“

Was redete Teichmann da? Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen.

„Herr Bremser, ich habe für all das keine wissenschaftliche Begründung und vielleicht liege ich völlig daneben. Doch vieles, was in unserem Unterbewusstsein geschieht, nehmen wir oberflächlich nicht wahr – und trotzdem hat es Einfluss darauf, was wir tun. Leider habe ich die Gemälde nicht mehr, doch wenn Sie möchten, schicke ich Ihnen Fotos davon aufs Handy.“

„Ja“, krächzte ich und räusperte mich. „Bitte tun Sie das.“

„Sie können mich jederzeit anrufen. Bloß keine Scheu, okay?“

„Okay. Danke.“ Ich legte auf. Einen Moment lang wusste ich nicht, wo ich mich befand. In meinem Kopf rauschte es. Ich setzte die Weinflasche an und leerte sie. Dann ging ich wie ferngesteuert nach draußen. Zwischenzeitlich waren die Getränke abgestellt worden. Ich schnappte sie mir, kehrte ins Haus zurück und begann mich gnadenlos zu betrinken.

Als ich am nächsten Tag gegen Mittag aufwachte, ging es mir dreckig wie seit Langem nicht. Mein Schädel schien zu platzen, mir war übel und ich fühlte mich schlapp. Ich kam kaum aus dem Bett. Alles um mich herum geschah in Zeitlupe. Ich hatte keine Erinnerungen an die vergangene Nacht, und nachdem ich die leeren Flaschen eingesammelt hatte, war mir klar, weshalb. Ein Wunder, dass ich keine Alkoholvergiftung hatte. Ich bebte vor Wut auf mich selbst. Wieso hatte ich es dazu kommen lassen? Ich musste auf der Stelle mit dem Trinken aufhören, egal wie schwer es mir fallen würde.

In der Nacht hatte Teichmann die Fotos geschickt. Nie im Leben hätte ich geglaubt, dass ich es gewesen bin, der sie gemalt hat, denn sie unterschieden sich gänzlich von dem, was ich üblicherweise auf die Leinwand brachte. Auf den Fotos waren lediglich zusammenhanglose Striche und Formen in schwarzer Farbe zu sehen.

Ähnlich wie auf der Leinwand in meinem Atelier.

Den Großteil des Nachmittags verbrachte ich schwermütig und mit kreisenden Gedanken auf dem Sofa. Zwischendurch ließ ich eine Pizza liefern, die ich runterschlang, als hätte ich seit Tagen nichts gegessen. Ich hatte kein Verlangen nach Alkohol und trank nichts außer Wasser. Gegen Abend ging es mir allmählich besser, was nicht hieß, dass es mir gut ging. Um dem Gedankenkarussell zu entkommen, streamte ich einen seichten Film. Anschließend ging ich ins Bett. Obwohl ich den ganzen Tag nichts getan hatte, war ich müde. Ich las noch ein paar Seiten, dann machte ich das Licht aus und schlief kurz darauf ein.

 

Junge
Die Jahre waren ins Land gegangen. Die Welt hatte den Jungen bereits vergessen, doch er hatte keine Ruhe gefunden. Es gab das Versprechen, das er dem Vater gegeben hatte und das noch eingelöst werden musste. Doch bislang war es nicht so weit gewesen, die Zeit dafür war noch nicht gekommen. Der Junge hatte eine Ewigkeit gewartet, bis er schließlich jemanden fand, über den er die Geschichte erzählen konnte. Der Junge machte sich auf.

 

Oliver
Ich hatte etwa vier Stunden lang geschlafen, als ich abrupt wach wurde und sofort voll da war. Jemand sprach zu mir. Ich hörte die Stimme nicht, doch ich spürte sie mitten in meiner Brust. Sie forderte mich auf, ihr zu folgen. Es war seltsam, doch nicht furchteinflößend. Ich stieg aus dem Bett, zog Jogginghose und Sweater über und schlüpfte in meine Sportschuhe. Dann verließ ich das Haus – ganz so, wie die Stimme es verlangte.

 

Junge
Längst erinnerte nichts mehr an das Grab des Jungen. Ganz in der Nähe wurden Häuser und Straßen gebaut, die dem See immer näher rückten und die Ruhestätte des Jungen schon bald ganz verschlucken würden.

Der Junge hatte sich dem Mann langsam genähert. Zeit war bedeutungslos, der Junge hätte weitere hundert Jahre verstreichen lassen können. Doch der Mann war der Richtige, seine Zerrissenheit und Suche nach sich selbst boten dem Jungen ausreichend Raum, sich in dessen Innerstem niederzulassen und ihn die Geschichte erzählen zu lassen.

 

Oliver
Ich ging die Straße runter. Die Stimme führte mich und ich verspürte tiefes Vertrauen. Die Nacht war mild und klar und am Himmel hing der fast volle Mond. Ich war hellwach und zugleich wie betäubt – ganz so, als könnte ich mich nicht zwischen zwei Zuständen entscheiden. Es war vollkommen unwirklich. Was geschah hier?

 

Junge
Der Junge hatte seinen Platz im Innersten des Mannes gefunden, doch der Mann entdeckte ihn nicht. Die Orientierungslosigkeit und das Selbstmitleid hatten seine Augen zu sich selbst verschlossen. Dem Jungen blieb nichts weiter übrig, als zu warten, dass die Augen des Mannes sich wieder öffneten – oder durch jemanden geöffnet wurden.

 

Oliver
Als ich vor dem Zaun des toten Feldstücks stand, war ich wieder ganz bei mir. Ich wusste, weshalb ich hier war und was ich zu tun hatte.

Das wenige Licht, das die Dunkelheit durchbrach, war ausreichend. Ich stieg über den Zaun und ging einige Schritte auf das Feld hinaus. Dann blieb ich stehen, schloss die Augen und horchte in mich hinein. Ich befand mich im völligen Gleichgewicht, und ich erinnerte mich nicht, wann das zuletzt der Fall gewesen war. Einige Sekunden lang genoss ich das Gefühl, dann bückte ich mich und nahm eine kleine Handvoll toter Erde. Ich ließ sie in die Tasche meiner Jogginghose rieseln und machte mich auf den Heimweg.

Wieder zuhause füllte ich eine Karaffe mit Leitungswasser. Ich hatte Verlangen nach Bier, doch ich wusste, dass ich klar bleiben musste, um die andere Seele sprechen zu lassen. Ich ging ins Atelier und bereitete Pinsel und Farben vor. Dann legte ich die Leinwand auf den Fußboden und streute ein wenig von der toten Erde drüber, um sie einzuarbeiten. Anschließend holte ich aus dem Wohnzimmer ein Sofakissen für die Knie.

Es war gegen drei Uhr, als ich mit der Malerei begann. Schon bald spürte ich, dass mein Bewusstsein zunehmend in den Hintergrund rückte und etwas Anderes an seine Stelle trat. Von da an dauerte es nicht mehr lange, bis ich mich selbst nicht mehr wahrnahm.

 

Junge
Der Mann hatte verstanden. Der Junge löste sein Versprechen ein. Die Geschichte wurde erzählt. Der Junge verließ den Mann – und fand endlich Ruhe.

 

Oliver
Am späten Nachmittag klingelte ich bei Jens. „Ich möchte dir was zeigen“, sagte ich, „es hat mit dem toten Feld zu tun.“ Jens kam sofort mit rüber.

Auf der Staffelei stand das Gemälde. Es zeigte ein Haus mit brennendem Dach, einigen Männern davor und einem Jungen, der hinter dem Haus im Maisfeld verschwand. Am Himmel schwebten ein Mann, eine alte und eine junge Frau, zwei Mädchen, ein Baby und ein zerbrochenes Kreuz. Das Bild war zweifellos von mir gemalt worden, es zeigte meine Strichführung und die von mir gewählte Farbintensität, doch mit Ausnahme der ersten Striche hatte ich keine Erinnerung daran, es gemalt zu haben. Es war mein Gemälde und zugleich war es das Gemälde eines Anderen, und der Gedanke daran war sowohl vollkommen irre als auch völlig real.

Ich konnte sehen, wie es in Jens‘ Kopf arbeitete. Nach einiger Zeit murmelte er: „Vielleicht hat es sich tatsächlich genau so zugetragen. Wie bist du darauf gekommen, dass es so gewesen sein könnte?“

„Keine Ahnung“, sagte ich. „Es ist aus mir herausgeflossen, wie von allein allein. Es ist einfach so geschehen.“

Wir schwiegen einen Moment lang. Dann fragte Jens behutsam: „Der Junge, der ins Maisfeld geflüchtet ist … – erzählt er die Geschichte auf dem Gemälde?“

Ich zuckte mit den Schultern, sagte aber: „Ich denke schon, irgendwie. Ja“.

Wieder schwiegen wir eine kurze Weile lang. Schließlich fragte Jens: „Was passiert jetzt mit dem Bild?“

Ich wartete kurz mit der Antwort und sagte dann: „Ich schenke es dir.“

Er sah mich verwundert an. „Weshalb?“

„Weil das tote Feld dich begleitet hat, seit du ein kleiner Junge warst. Du hast alles Wichtige darüber recherchiert, also solltest du auch die Geschichte der Familie erzählen. Schreib darüber im Internet oder berichte davon in der Zeitung. Es dürfte auf ein gewisses Interesse stoßen. Immerhin hat ja sogar die New York Times darüber berichtet.“

Jens nickte. Der Gedanke, den eigenen Namen zu lesen, gefiel ihm. Er sagte: „Ich frage mich, ob meine Frau recht hatte und tatsächlich ein Fluch auf dem Feld lag und es nun, nachdem das Schicksal der Familie erzählt wird, wieder zum Leben erwachen wird.“

Ich zuckte mit den Schultern, doch ich war überzeugt, dass es geschehen würde. Ja, es würde geschehen. Das Feld würde wieder leben.

 

Ende

Andreas Richter