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18. Februar 2022

Vergangene Zeiten: Rückblende

Kurzgeschichte von Marlis David

Es schmerzte, immer wieder. Deshalb fand ich den Weg nicht oft in die mir vertraute Straße. Aber manchmal brauchte ich es, wenn die Sehnsucht übermächtig wurde. Dann fuhr ich kurz entschlossen los, parkte den Wagen gegenüber am Stadtpark, setzte mich auf eine Bank und betrachtete mein ehemaliges Wohnhaus. Ein langgestrecktes Gebäude mit zwei Eingängen, Hausnummern drei und vier. Beide Häuser blieben im Krieg zum größten Teil von den Bomben verschont. In dem roten Backstein sahen sie unverändert aus, bis auf die neuen Fenster, die irgendwann einmal eingebaut worden waren. Bei meinem letzten Besuch hatte ich die Klingelschilder durchgesehen und nicht einen vertrauten Namen entdeckt. Was hatte ich auch erwartet? Es ist über fünfzig Jahre her; da ist nichts mehr, wie es einmal war. Damals lebten sechzehn Familien in beiden Häusern und doch war es eine Gemeinschaft. Heute kennt kaum einer seinen Nachbarn, dachte ich wehmütig. Bei jedem Besuch verspürte ich wieder diesen Schmerz in der Herzgegend. Der Verlust der Kindheit, die Erinnerung an die erste Liebe. Das Fenster, hinter dem Mutter das letzte Mal stand und mir mit dem Taschentuch winkte, als ich abreisen musste.

Jetzt sitze ich erneut auf der vertrauten Parkbank und Bilder drängen sich in meine Erinnerung. Viele vertraute Gesichter, die verschwunden waren, niemals wiederkehren können. Ich schließe die Augen. Hinter jedem Fenster verbirgt sich eine Geschichte.

Ich höre wieder diesen durchdringenden Schrei, sehe Ursula blutend auf der Straße liegen. Sehr oft habe ich in meiner Erinnerung daran denken müssen. Bilder tauchen schemenhaft auf. Im Parterre links wohnte ein älteres Ehepaar, sehr zurückgezogen. Nur manchmal betrat eine hagere, blasse Männergestalt den Balkon, um frische Luft zu schöpfen. Eines Tages sollte sich alles ändern. Die Stille wurde plötzlich zum Leben erweckt. Zwei Mädchen, neun und zwölf Jahre alt, zogen bei ihnen ein. Der Kontakt zu den Mädchen war schnell hergestellt, sie wurden einfach zum Spielen abgeholt. Das Verbot, ihre Türschwelle nicht zu übertreten, wurde eingehalten. Dass ihre Eltern geschieden waren und sie danach bei der Mutter lebten, die aber kurz darauf an Krebs verstarb, erfuhren wir schon am zweiten Tag. Traurig erzählten die Mädchen, dass ihr Vater sie nicht bei sich haben wollte und jetzt im Ausland lebte. Die Großeltern waren der Aufgabe kaum gewachsen, aber sie wollten es, so gut es ging, mit den Mädchen versuchen. Ursula, die Ältere, hatte braune, lange Zöpfe. Sie war ein lebhaftes Mädchen, während Gisela, zart und blond, etwas introvertiert wirkte.

Es war einer dieser heißen Tage, an denen wir am liebsten ins Schwimmbad gegangen wären, aber nicht durften. Wir langweilten uns und liefen, ein Bein auf dem Kantstein, das andere auf der Fahrbahn, neugierig zu der im Bau befindlichen Villa am Ende der Straße. Wir wollten den Arbeitern zusehen. Dort angekommen tollten wir übermütig um einen Bauwagen herum, ohne auf die Straße zu achten, und spielten Fangen. Ursula lief übereifrig los. In diesem Augenblick geschah das Entsetzliche. Ein Lieferwagenfahrer sah sie zu spät. Das Fahrzeug erfasste und überrollte sie. Ein herzzerreißender Schrei, dann war alles still. Starr vor Schreck konnten wir uns kaum rühren. Dann lief einer von uns zu dem fast fertigen Haus, rief mit erstickter Stimme dem Besitzer von Weitem zu: „Schnell, schnell, einen Krankenwagen, sonst wird Ursula sterben!“ Über ein Jahr musste sie im Krankenhaus bleiben, beide Beine wurden mehrmals operiert und sie sollte lange Zeit Metallschienen tragen, um überhaupt gehen zu können. Sie hat es überlebt, aber danach war nichts mehr so, wie es einmal war.

Ich öffne die Augen. Durch einen Schleier sehe ich diesen kleinen, rundlichen Jungen, der Knallfrösche explodieren lässt und einen Heidenspaß dabei hat. Ich versuche mich an seinen Namen zu erinnern … Erhard … nein, er hieß Eckard und lebte hinter dem Fenster im Parterre rechts mit einem Riesen und einem Zwerg. Dann war da noch Jutta, seine Schwester. Der Vater, groß und muskulös, ein stattlicher Mann, und die Mutter, klein und rund, reichte ihm bis zur Hüfte. Ein derart ungleiches Paar gab es sonst nicht in diesem Viertel. Der Vater verließ jeden Morgen mit seiner schwarzen Schippermütze auf dem Kopf das Haus, um am Hafen als Ewerführer zu arbeiten.
Seine Frau versorgte den Haushalt, die Kinder und den kleinen Mischlingshund. Krummbein Struppi lag meist auf der Balkonbrüstung und hatte Spaß daran, jeden Fremden zu verbellen, der es wagte in seinen Dunstkreis einzudringen. Ein lustiger, kleiner Geselle, der uns förmlich dazu aufforderte ihn zu necken. Eckards Gedanken kreisten nur ums Essen, zudem litt er noch unter erheblichen Sprachschwierigkeiten. Er war ein lieber Junge, der aber bei allen Spielen abseits stand. Seine Hemmungen konnte er nicht überwinden. Oftmals glaubten wir, jetzt hat er’s, aber dann machte er auf dem Absatz kehrt und lief nach Hause. Jutta, seine Schwester, auch etwas füllig, dennoch selbstbewusst, spielte gern mit uns. Der Riesenvater kaufte eines Tages einen Lastwagen, mit dem er Frachten aller Art transportierte. Es war das erste Auto in unserer Straße. Außer einem Pferdewagen mit vier dicken Kaltblütern, die das Bier der Brauerei ausfuhren, kam selten ein Transportfahrzeug vorbei. Wir durften im Führerhaus sitzen – das war das Highlight eines jeden Tages. Die Freundschaft mit Eckard und Jutta war für uns von großer Bedeutung. Silvester war der aller-, allerwichtigste Tag in Eckards Leben. Schon nachmittags stand er vor dem Haus und brannte kleine, grüne, hüpfende Knallfrösche ab. Abends durfte er mit seinem Vater die Raketen in den Himmel sausen lassen. So lebhaft, wie an diesem Tag, war er das ganze Jahr nicht. Dieser eine Tag im Jahr war sein großer Tag. Bis ins hohe Alter behielt er dieses Ritual bei. Noch vor zwei Jahren stand sein Name auf dem Türschild, doch auf ein Klingeln wurde nie geöffnet. Sah man durch die stark verschmutzten Scheiben, konnte man das Sammelsurium eines allein lebenden Mannes entdecken.

Ein großer Hund, ein Jagdhund, kommt jetzt direkt auf meine Bank zu, schnuppert an meinen Schuhen und sieht mich freundlich an. Behutsam streichele ich über seinen Kopf. Sofort muss ich an Treff denken, sehe ihn wieder deutlich vor mir.

Treff wohnte in der Wohnung über Eckard, als Untermieter bei Tante Anni. Ihren vollen Namen wussten wir gar nicht, wir Kinder nannten sie nur Tante Anni. Sie war Rotkreuzschwester und wir kannten sie nur in ihrer Schwesterntracht mit dem roten Kreuz vorne unter dem Kragen. Klein und drahtig kam sie immer mit schnellen Schritten daher. Sie vergaß nie, uns ein liebes Wort zu sagen. Auf der Hälfte ihrer linken Wange befand sich ein Blutschwamm, den man aber gar nicht wahrnahm, denn er wurde von ihren wachen, blauen Augen überstrahlt. In Zivilkleidung haben wir Tante Anni nie gesehen, sie war immer im Einsatz. Mit großer Begeisterung sammelte sie Kräuter, verstand auch sehr viel davon und für jede Krankheit hatte sie das Passende zur Hand. Stundenlang hörten wir ihren wundervollen Geschichten zu, die sie so lebendig erzählen konnte. Die ersten Jahre nach dem Krieg gab es überall große Wohnungsnot. Tante Anni vermietete sofort zwei Zimmer ihrer Wohnung. Das eine bewohnte Herr Steiner, ein liebenswerter Untermieter, der ihr mit Rat und Tat zur Seite stand. Im Zimmer zur Straße wohnte Schwester Lotte mit ihrem Treff. Das Zimmer hatte nur neun Quadratmeter und Treff war ein großer Jagdhund. Da es äußerst beengt war, spielte Treff meist mit uns auf der Straße. In seinem weißen Fell sah man auf der linken Seite einen knienden, betenden, braunen Engel. Wir Kinder liebten diesen Hund, der aufs Wort folgte und etwas ganz Besonderes für uns war. Schwester Lotte war im Krieg als Krankenschwester an der Ostfront gewesen. Beim Rückzug der Truppen fand sie auf einem Bahnhof im Osten einen herrenlosen Hund, völlig abgemagert und am ganzen Körper zitternd. Kurzentschlossen nahm sie ihn in ihre Obhut. Durch die entsetzlichen Einschläge der Bomben während des Krieges war er geschädigt und jedes Mal völlig verstört, wenn ein Gewitter aufzog. Dann zitterte der Hund wie Espenlaub und war nicht mehr zu beruhigen. Sonntags, in aller Herrgottsfrühe, ging Schwester Lotte mit uns in den Stadtpark, dort durfte Treff frei herumlaufen und brachte nicht selten einen Hasen an. Lotte und Treff konnte man später oftmals im Kino in Werbesendungen bewundern. Sie posierten für unterschiedlichste Markenprodukte.

Mit einem tiefen Seufzer und voller Wehmut denke ich an die schöne Zeit damals zurück. Das Zeitfenster hätte ich gern noch einmal geöffnet, die schönen Stunden noch einmal erlebt, die Momente voller Glück und Freude zurückgeholt. Mein Blick bleibt am Fenster eine Etage über Tante Anni hängen.

Die Mutter stand viel auf dem Balkon und hielt nach ihrem Jungen Ausschau, in ständiger Sorge, es könnte ihm etwas passieren. Ein nicht mehr ganz junges Ehepaar mit einem kleinen Blondschopf, der partout nicht wachsen wollte, wohnte dort. Günther war damals der Jüngste in unserem Wohnblock, klein und zierlich, aber er wollte bei allen Spielen dabei sein, alles mitmachen. Seine Eltern, damals schon viel gereist, meist als Rucksacktouristen per pedes apostolorum, hatten viel gesehen und konnten spannend erzählen. Günther wäre viel lieber zu Hause geblieben. Er war ein begeisterter Trapper oder Indianer, wenn im Stadtpark gespielt wurde. Beim Völkerball, mitten auf der Hauptstraße, durfte er nicht mitmachen. Er war ein Einzelkind und seine Eltern waren zu ängstlich, obwohl am Tag höchstens ein Auto vorbeikam. Ich erinnere mich noch an den Nachmittag, als Harald, ein Nachbarsjunge, splitternackt und laut schreiend auf dem Fahrrad angebraust kam. Günther stand mit offenem Mund da und staunte; er brachte kein Wort heraus. Harald wohnte vier Häuser weiter in unserer Straße und war das Enfant terrible der gesamten Gegend. Ach ja … Harald … mit einem Lächeln denke ich an ihn zurück.

Harald war an allem schuld, wenn etwas Strafbares passierte. Er stahl seinem Vater Geld, stibitzte ihm den Wagenschlüssel und düste mit dem Auto los. Alle Klingelstreiche gingen auf sein Konto. Auch bei den geklauten Ölfässern, die sie in die Alster warfen, war er der Anführer. Für seine Eltern gab es damals nur einen Ausweg: das Rauhe Haus, eine Anstalt für schwer erziehbare Kinder. Damit war Harald für eine Weile aus dem Verkehr gezogen. Trotz allem wurde später ein ehrbarer Bürger aus ihm, der sein Leben in den Griff bekam.

Mir fällt ein, dass Harald damals der Einzige war, der etwas unternommen hatte, um mir zu helfen. Langsam drehe ich mich um, sehe wieder den Weg, der in den Stadtpark hineinführt, und noch heute läuft mir ein Schauer über den Rücken, wenn ich zurückdenke.

Er hatte mich ausgewählt, ergriff meinen Arm, zerrte mich in das nahe Gebüsch. Mir war der Hals zugeschnürt, ich konnte nicht schreien. Ich sah nur noch, wie die beiden Freundinnen davonliefen. Er stürzte sich auf mich, warf mich auf den Waldboden, kniete auf meinem schmächtigen Körper. Ich wusste überhaupt nicht, was er von mir wollte. „Komm‘, ich möchte dir etwas zeigen, aber du musst mit mir etwas tiefer hinter das Gebüsch gehen“, sagte der Fremde zu mir. „Lass‘ mich los, du tust mir weh! Meine Mutter sitzt dahinten auf der Bank und ich werde sie rufen!“, schrie ich aufgeregt. Er lockerte den Griff und stand auf. Noch ehe er mich wieder packen konnte, war ich aufgesprungen und rannte los. Eine Pfütze. Ich rutschte aus, fiel hin, sprang sofort wieder auf und lief, so schnell ich konnte, weiter. Er war dicht hinter mir, ich spürte seinen Atem. Am Parkweg lief ich nach rechts in den Park hinein, hoffend, meine Mutter noch auf der Bank anzutreffen. Der Mann blieb stehen. Er glaubte wahrscheinlich, was ich gesagt hatte, und lief nach links aus dem Park hinaus. Meine Mutter saß noch auf der Bank. Zitternd berichtete ich, was passiert war. „Hat er dich angefasst?“, war das Einzige, was sie interessierte. Ein Jahr war seit dem Vorfall vergangen. Wir Kinder spielten auf der Straße Völkerball, als ich wieder diesen Mann, der mir etwas antun wollte, auf der anderen Straßenseite sah. Er wollte gerade in den Stadtpark gehen. Sofort lief ich zu Harald: „Da, da geht der Mann, der mich umbringen wollte!“ Harald, damals schon groß und kräftig, lief sofort los. Er packte den Kerl vorne am Hemd: „So, mein Bürschchen, jetzt haben wir dich, du Saukerl, vergreifst dich an kleinen Mädchen!“ Der schüttelte wortlos den Kopf. „Wenn ich dich hier noch einmal sehe, schlage ich dich grün und blau, du elender Scheißkerl!“ Der wurde kreidebleich, schluckte. „Ich war das nicht“, stotterte er. Harald drehte sich um und sah mich an. Ich nickte ihm zu und rief: „Oh doch, du warst es!“ Der Mann riss sich los und lief davon. Er wurde in unserer Gegend nie mehr gesehen. Harald war für mich damals mein großer Held. Viel später habe ich Mutter vorgehalten, dass sie nicht zur Polizei gegangen und Anzeige erstattet hatte, es auch nicht für nötig hielt, ihre neunjährige Tochter aufzuklären, was auch später nicht geschah. Vielleicht hätten andere Vergewaltigungen durch diesen Mann verhindert werden können, warf ich Mutter vor.

Zusammengesunken, von den Erinnerungen überwältigt, sitze ich jetzt erschöpft da. Nach einer Weile erhebe ich mich und beschließe, am nächsten Tag noch einmal zu kommen. Irgendetwas drängt mich, diesen Abschnitt meines Lebens morgen weiter Revue passieren zu lassen.

Erst zwei Tage später schaffe ich es noch einmal zu kommen, aber meine Bank ist besetzt. Ich beschließe einen Spaziergang in den Stadtpark zu unternehmen. Alles ist mir so vertraut … jeder Baum, jeder Weg, selbst die alten Bänke stehen noch da. Die verwitterten, ineinander verschlungenen, eingeritzten Herzen sind noch schwach zu erkennen. Ein leichter Schwindel lässt mich straucheln, mir wird für einen Moment schwarz vor Augen. Aber es geht schnell wieder vorbei und ich beschließe umzukehren. Meine Bank ist jetzt frei, ich setze mich, schaue wieder auf das Haus und träume mich in die Vergangenheit zurück.

Da war doch diese spleenige, adelige Studienrätin, die so verschrobene Ansichten hatte. Wenn die Pappeln blühten und ihre kleinen, weißen Flöckchen abwarfen, lehnte sie sich aus dem Fenster und rief meiner Mutter zu: „Schütteln Sie doch Ihr Staubtuch woanders aus! Ihre Staubflocken fliegen komplett in meine Wohnung. Meinen Sie, ich möchte Ihren Dreck in meiner Wohnung finden?“ Wir konnten uns nicht einkriegen vor Lachen.
Durch die Bombenangriffe waren einige Häuser in der Nachbarschaft völlig zerstört. Für uns Kinder ein idealer Abenteuerspielplatz, um Räuber und Gendarm zu spielen. Am Totensonntag im November 1948 schrie die Studienrätin vom Balkon: „Du solltest dich schämen, an so einem Tag auf dem Trümmerberg zu spielen, anstatt zu Hause an deinen Vater zu denken, der im Krieg gefallen ist!“ Das hatte gesessen, eine Wunde wieder aufgerissen und mich zutiefst verletzt. Weinend lief ich nach Hause und beschloss, der alten Zicke fortan das Adelsprädikat abzuerkennen, da ich fand, dass es einer so bösen Frau nicht mehr zustand. Außerdem wusste ich, dass es sie besonders zornig machen würde. Wenn ich sie mit „Guten Morgen, Frau Stegen“ begrüßte, rief sie erbost: „Frau von Stegen, wenn ich bitten darf!“ Aber das „von“ war für mich gestorben. Etwas friedfertiger wurde sie erst durch eine Liebschaft. Wir Kinder waren baff; Originalton: „Dass die alte Schachtel noch einen abgekriegt hat …“. Eines Tages zog sie dann zu ihm … Gott sei Dank!

Mein Blick wandert zu der ausgebauten Dachwohnung. Wer dort wohl heute lebt? Die letzte Begegnung mit Susanne fällt mir ein.

Sie musste einundzwanzig gewesen sein, als sie bei uns klingelte, mit einem Baby auf dem Arm. Sie war inzwischen mit einem Iraner verheiratet. Während des Medizinstudiums an der Uni hatten sie sich kennengelernt. Es war das letzte Mal, dass ich von ihr hörte, sie wollten nach Teheran ziehen. Der Vater von Susanne war auch Arzt und wohnte damals mit Frau und Tochter in der Dachgeschosswohnung. Ich fand den Vater so unsympathisch und ihre Mutter tat mir damals leid. Sie hatte sehr häufig verweinte Augen. Am schönsten waren die Besuche bei der Oma von Susanne. Der herrliche Duft frischen Kuchens und dampfenden Kakaos steigt mir wieder in die Nase. Susannes Oma hätte ich damals am liebsten adoptiert, so wohl fühlte ich mich dort.
Eines Tages lag ich nachts mit hohem Fieber im Bett und meine Mutter wusste keinen Rat. Mitten in der Nacht holte sie den Doktor, Susannes Vater, aus dem Bett. Im Fieberwahn hatte ich nichts mitbekommen, aber Mutter erzählte später, dass er sich auf der Toilette Morphium gespritzt hat. Ein paar Jahre später wurde die Ehe geschieden, er verlor die Praxis und ging ins Ausland. Ihm wurde wegen seiner Morphiumsucht die Approbation als Arzt entzogen. Susanne zog mit ihrer Mutter in einen anderen Stadtteil, dadurch verloren wir uns aus den Augen. Später habe ich sie nur noch einmal gesehen, als sie uns mit ihrem entzückenden Baby besuchte.

In Haus Nummer vier, im Parterre, wohnte eine reizende, alte Dame – Oma Möller. Sie war schon über achtzig und hatte schneeweißes Haar. Ihre Augen wurden immer schlechter, sie konnte kaum noch etwas erkennen, aber eine Brille trug sie nicht. Heute glaube ich, es war aus Eitelkeit. Zuletzt saß sie fast den ganzen Tag mit einem Fernglas hinter den Gardinen und beo­bachtete das Geschehen vor ihrem Fenster.

Nebenan lebte Minka, eine schwarz-weiße Katze. Wenn sie nicht am Fenster saß, lag sie auf der Balkonbrüstung in der Sonne. Das alte Ehepaar liebte seine Katze wie ein Kind. Wäre Minka nicht gewesen, wären sie sicher viel früher gestorben. Viel Zeit verbrachten die beiden Alten hinter der Gardine oder hinter der Haustüre. Sie kannten jeden Besuch, jedes Gespräch wurde belauscht. Meinen ersten Abschiedskuss vor ihrer Wohnungstür konnten sie meiner Mutter in allen Einzelheiten wiedergeben.

Darüber wohnte Peter mit seinen Eltern. Beim Indianerspiel wollte ich unbedingt seine Squaw sein, er war mein Mädchenschwarm. Bei Fußballübertragungen im Fernsehen saß die ganze Hausgemeinschaft bei uns in der Stube, denn Mutter besaß den ersten Fernseher im ganzen Block. Oftmals waren nicht genug Sitzgelegenheiten da, um allen einen Platz anzubieten. Es war immer ein großes, lautes Vergnügen. Peter kam mit seinem Vater und ich war selig, völlig hingerissen. Dabei interessierte er sich leider nur für Fußball.

Mein Blick schwenkt zum Fenster auf der anderen Seite. Die Erinnerung schmerzt zutiefst, bis heute ist die Wunde nicht verheilt.

In der Wohnung lebte damals eine fünfköpfige Familie, Vater, Mutter, zwei Jungen und ein Mädchen. Die Tochter wurde meine beste Freundin und Spielkameradin. Schon wochenlang vor Weihnachten drückten wir uns wegen der Babypuppen die Nasen am Schaufenster des Spielwarengeschäftes Meyer platt. Jahrelang spielten wir mit den Puppen … ich besitze meine heute noch.
Durch Umzüge in andere Städte, Schicksalsschläge und Tod sahen wir uns erst nach beinahe zehn Jahren wieder. Das letzte Bild von ihrem Bruder Holger auf dem Totenbett, verhungert, mit einem langen, schwarzen Bart und tiefliegenden Augen, wird mir immer im Gedächtnis bleiben. Es ging durch alle Medien, damals am 9. November 1974. Er überlebte den Hungerstreik der RAF nicht. Schon als Kind war er ein Sonderling, anders als all die Menschen, die ich später traf. Holger spielte viel mit meinem Bruder, sie konnten stundenlang auf dem Fußboden mit Trappern und Indianern aus Bakelit spielen, sogar an den Weihnachtstagen fanden sie meist kein Ende. Holger konnte wunderbar zeichnen und malen, oftmals habe ich ihm dabei zugesehen und ihn für sein Talent bewundert. Sein Bruder war als Erster bei den christlichen Pfadfindern, bevor wir später alle dazu kamen. Für Holger existierte nichts anderes mehr, es war einfach das Größte für ihn. Uns gefiel es auch, die Zeltlager, die Lagerfeuer, das Singen zur Gitarre, die Mutproben, aber so extrem wie Holger war keiner dabei. Lange Zeit hörte ich nichts mehr von ihm, nur, dass er nach Berlin gegangen sei. Erst durch seine Zugehörigkeit zur RAF sah ich ihn auf den Fahndungsfotos der Polizei wieder.

In der Wohnung darüber wohnten Karla und Ina mit ihren Eltern und Kater Felix.
Eine Begebenheit fällt mir wieder ein, lässt mich heute noch schmunzeln. Wir, Karla und ich, waren gerade zwölf Jahre alt, als Karla völlig aufgelöst bei mir klingelte und flüsterte: „Komm‘, aber schnell, das musst du sehen! Meine Eltern liegen im Wohnzimmer auf dem Boden, halb ausgezogen und mein Vater auf meiner Mutter. Die machen ganz komische Bewegungen und Geräusche, hoffentlich überleben sie das!“ Auf Zehenspitzen schlichen wir zum Wohnzimmer und sahen durch das Schlüsselloch. „Warum machen die das auf dem Fußboden?“, flüsterte ich Karla ins Ohr. Die zuckte mit den Schultern: „Weißt du denn, was das soll?“ Ich schüttelte den Kopf, ich hatte so etwas noch nicht gesehen, hatte ja nur eine Mutter. Wir konnten damals nicht herausfinden, was die da grtrieben hatten und das beschäftigte uns sehr. Mit Karla ging ich zum Konfirmandenunterricht, bei Pastor Balde­nius. Wir waren jetzt vierzehn und Karla war unsterblich in den Sohn vom Küster unserer evangelischen Gemeinde verliebt, der aber nichts davon ahnte. Das große Liebesleid der unerwiderten Liebe musste ich mit ihr teilen und sie von Selbstmordabsichten abbringen. Mit siebzehn kam dann ihre große Liebe, die sie auch heiratete. Eine Begebenheit mit Kater Felix ist mir in Erinnerung geblieben. Er fiel schlafend aus der zweiten Etage vom Balkon – ohne sich zu verletzen. Katzen haben sieben Leben, sagt man. Muss wohl wahr sein.

In der Wohnung nebenan lebte die Gymnasiallehrerin Frau Schulze und wir direkt darüber. Not macht erfinderisch. Sie war ideenreich und hatte herausgefunden, dass ein Besenstiel, mit aller Kraft gegen die Heizung geschlagen oder unter die Decke gebollert, ihr hin und wieder Ruhe verschaffen konnte. Die Kampfhähne über ihr waren dann für einige Zeit ruhig. Sie war eine feine, stille Frau, die meine Mutter bedauerte, mit solchen Kindern gestraft zu sein.

Die Wohnungen in diesem Altbau waren recht hellhörig. Das Fenster unseres Kinderzimmers lag über ihrem Arbeitszimmer … ach ja … im Nachhinein möchte man sich tausendmal entschuldigen … aber damals … Mein Bruder war jähzornig, er schlug die Türen so heftig zu, dass der Putz bröckelte. Es wurde viel gestritten, geschlagen, gezankt … die Mutter hatte es nicht leicht mit uns. Sie kam vom Einkaufen und ihre beiden Kinder saßen im dritten Stockwerk auf der Balkonbrüstung und ließen die Beine baumeln. Sie war oftmals mit den Nerven am Ende. Uns fehlte sicherlich die männliche Bezugsperson. Nach vierzig Jahren musste ich die Wohnung meiner Mutter auflösen, was mich doch emotional sehr berührte. Es war so schwer, liebgewonnene Gegenstände zurückzulassen. Ich stand am Fenster und sah das voluminöse Ölbild mit der Gebirgslandschaft und dem riesigen Stuckrahmen auf dem Autodach des Antiquitätenhändlers davonfahren.
Es gehörte Frau Robinson, einer jüdischen Nachbarin. Sie hatte es einen Tag vor ihrem Abtransport ins KZ meiner Mutter geschenkt. „Bei Ihnen ist es gut aufgehoben, ich brauche ja jetzt nichts mehr“, hatte sie gesagt. Mutter hing an dem Bild, sie hatte es in Ehren gehalten, aber ich hatte keinen Platz dafür. Frau Robinson hatte ausgesprochen, was ich jetzt dachte: Am Ende kann man nichts mitnehmen. Hinter dem Kleiderschrank entdeckte ich einen kleinen, abgewetzten Koffer, den ich noch nie gesehen hatte. Neugierig öffnete ich ihn. Es lagen Feldpostbriefe meines Vaters und Briefe von Mutter an ihn darin, ein silberner Bleistift, der meinem Vater gehört hatte, sowie andere Gegenstände aus seinem Besitz. Den ganzen Tag konnte ich nichts mehr tun. Ich weinte bitterlich. Die Briefe wühlten mich zutiefst auf. Warum hatte sie den Koffer vor ihren Kindern versteckt? Vielleicht wollte sie dieses Schatzkästchen für sich allein haben, hatte es fest im Herzen verschlossen. Es war wohl nur für sie persönlich. Oder wäre der Schmerz unerträglich gewesen, wenn sie es geöffnet hätte? Diese Fragen müssen unbeantwortet bleiben.

Ich schließe jetzt die Gedankenfenster. Es sind heitere, anrührende, traurige Erinnerungen dabeigewesen, die mich wieder sehr nachdenklich stimmen. „Nichts bleibt, wie es ist. Alles ist vergänglich, alles fließt“, sage ich leise, stehe auf, steige ins Auto und fahre, ohne mich noch einmal umzusehen, davon. Aber ich weiß, dass die Sehnsucht nach der Rückschau auf die Kindheitserlebnisse irgendwann wieder da sein wird.

 

Marlis David

 

 

Marlis David,
geboren 1940 in Hamburg, war nach kaufmännischer Ausbildung in mehreren großen Firmen tätig. Im Ruhestand widmet sie sich ihrem Hobby, dem Schreiben. Es bedeutet für sie Glück und Berufung. Im Jahr 2011 veröffentlichte sie zwei Bücher mit Kurzgeschichten. Auch in verschiedenen Anthologien sind Kurzgeschichten von ihr zu finden. Zu Weihnachten konnte man Geschichten von ihr im Radio hören.