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20. September 2021

Empirische Forschung … denn ich brauche das Geld

Kurzgeschichte von Marlis David

In meinem Briefkasten liegt heute nur ein Brief. Der Absender Empirische Meinungsforschung ist mir nicht fremd … ich hatte vor Jahren schon einmal Kontakt. Was heißt eigentlich empirisch, warum nicht „Erfahrung“? Nein, Empirische Meinungsforschung; im Duden heißt es „Erfahrungswissenschaft“!

Meine Erfahrung mit dieser Gesellschaft habe ich, wie gesagt, vor langer Zeit schon einmal gemacht. Der DIN A 4-Umschlag liegt jetzt verschlossen auf meinem Schreibtisch. Die Arbeit ist immer termingebunden und ich brauche dringend das Geld, aber der Absender erzeugt bei mir Unwohlsein, wenn ich daran zurückdenke. Es ging immer um sehr heikle Themen.
Doch die Neugier siegt schließlich. Was wollen sie dieses Mal von mir? Erstaunt lese ich: „Drei Interviews über das sexuelle Verhalten des deutschen Mannes“. Ich lese es laut, einmal, zweimal, dann glaube ich, was da steht.
„Machen Sie diese drei Interviews in Weißbach“, lese ich weiter.
Sind die verrückt? In Weißbach? Einem kleinen Dorf vor der österreichischen Grenze?!
In diesem abgelegenen Dorf, ringsherum nur Berge, ist doch die Welt zu Ende. Dort soll ich die alten Bäuerlein nach ihrem sexuellen Verhalten fragen? Was haben die sich denn dabei gedacht?
„Beginnen Sie in der Talstraße 5 und dann jedes dritte Haus. Befragt wird der Haushaltsvorstand zwischen 30 und 65 Jahren. Es werden 2.500 Personen in der Bundesrepublik befragt, um einen repräsentativen Querschnitt zu erhalten“, lese ich weiter.
Verdammt noch mal, dann könnte ich doch in München … und nicht in Weißbach, denke ich verstimmt. Es ist tiefer Winter und es liegt hoher Schnee. Mein klappriges Vehikel macht es sowieso nicht mehr lange und dann dieses abgelegene Dorf! Da bleibe ich ja gleich im hohen Schnee stecken … aber ich brauche das Geld, geht es mir erneut durch den Sinn.

Mit einem mulmigem Gefühl mache ich mich am nächsten Tag auf den Weg. Von meinem Wohnort Bad Reichenhall ist die Entfernung akzeptabel.
Der gefrorene Schnee knirscht unter meinen Füßen. Rundherum eine Bilderbuchlandschaft, die der Sternenhimmel in blaues Licht taucht. Jedoch habe ich keinen Blick dafür, denn es hämmert in meinem Schädel. Sexuelles Verhalten des deutschen Mannes – auf jeden Fall deutsch sollte er sein, denke ich belustigt, als ich vor der angegebenen Hausnummer stehe.
Talstraße 5, ein Bauernhaus mit einem anschließenden Stallgebäude, davor ein großer, dampfender Misthaufen. Vergebens suche ich nach einer Hausglocke. Nach lautem Klopfen höre ich schlurfende Schritte und die schwere Tür öffnet sich.
„Grüß Gott, Madl, was führt dich her?“ – „Grüß Gott!“
Ein schneller Blick verrät sofort, der Alte ist sicher schon lange über Gut und Böse hinweg: „Gibt’s noch einen Jungbauern in eurem Haus?“ Der alte Mann lacht verschmitzt, seine Augen leuchten jung und lebendig. „Dann musst du ins nächste Dorf, dort findest du ihn.“ Artig verabschiede ich mich. Erster Misserfolg! Zu Fuß gehe ich weiter, zähle die Häuser.
Eins, zwei, drei! Ein schönes, großes Bauernhaus, neu verputzt. Die Haustür wird von einer hübschen Girlande geschmückt: „Herzlichen Glückwunsch“ steht in Goldbuchstaben über dem Eingang.
Zaghaft klopfe ich. Keine Antwort. Es meldet sich niemand. Der Türgriff lässt sich herunterdrücken und gibt nach. Mit schlechtem Gewissen stehe ich in der großen Diele. Durch eine offen stehende Tür fällt mein Blick in die gemütliche Wohnstube: Kamin, Holzbank, großer Tisch, Flickenteppich, rot karierte Gardinen. Im Herrgottswinkel Jesus am Kreuz, darunter Blumen.
Wie beschaulich, denke ich. Jetzt hier hinsetzen, Hände in den Schoß legen – herrlich, einfach Interview Interview sein lassen … Aber meine Gedanken kreisen um das Interview, denn ich brauche das Geld. Ich klopfe also an jede Zimmertür. Endlich eine leise Frauenstimme: „Ja, wer ist da?“ – „Wir führen eine Umfrage durch und ich suche den Haushaltsvorstand.“
„Den Haushaltsvorstand? Meinen S’ den Bauern? Das geht jetzt nicht!“ „Warum nicht?“ – „Wir liegen im Bett, es ist unsere Hochzeitsnacht!“ – „Oh, dann entschuldigen Sie bitte!“ Wie peinlich war das denn? Ein leises Stöhnen dringt durch die Tür.
Ein erneuter Misserfolg, verdammt, meine Hoffnungen schwinden langsam.

Eins, zwei, drei! Oh, das muss wohl der größte Bauer sein. Ein großer Hof mit vielen schön angelegten Ställen. Es riecht nach Kühen und Pferden und in der Mitte dampft ein frischer Misthaufen. Im Haus brennt Licht, hoffnungsvoll klopfe ich an die schwere Eichentür. „Grüß Gott! Wir führen eine Umfrage durch. Ihr Haushalt wurde ausgewählt“ – neue Variante – „ist der Bauer zu sprechen?“ – „Ja, denk‘ scho, bin nur die Magd. Kimm eini, der Bauer sitzt da drübn in der gutn Stubn!“
Alle sitzen um den großen Tisch, in der guten Stube. Der Bauer, die Bäuerin, fünf Kinder und drei Knechte.
„Sag‘s dem Bauern, was halt willst, Madl!“
Mir werden die Knie weich, ich stottere: „Ich wollt‘ den Bauern bitten mir ein paar Fragen zu beantworten.“ – „Aber ja, warum net, worum geht´s denn da?“
Diese Frage habe ich befürchtet. Es ist mir unmöglich es auszusprechen. Allein die Vorstellung, ihm die überaus heiklen Fragen zu stellen, löst bei mir Panik aus. Plötzlich steht der Bauer vor mir.
„Darf ich Sie wohl alleine sprechen, vielleicht nebenan, unter vier Augen?“
Da springt die Bäuerin entrüstet auf: „Na, na, das gibt’s fei net. Ich beantworte Iahna alle Fragen.“
„Das geht nicht, es betrifft nur Ihren Mann!“
„I woaß ja alles von ihm, bitte, fangen S‘ scho an!“
„Könnte ich vielleicht doch mit Ihrem Mann?“
„Na, na, worum geht’s?“
„Um sein Sexualleben!“ – So, endlich ist es raus.
Sie sieht mich mit weit aufgerissenen Augen an. „Jo mei, dös geht Sie doch fei nix an, dös ist doch unsre Sach!“
„Ja, schon, aber fährt Ihr Mann manchmal auf Munich?“ – „Dös is scho lang, lang her!“
„Hat er dort auch schon mal diese Häuser …?“
„Was für Häuser denn?“
„Na, Sie wissen schon, diese öffentlichen?“
„Nun langt’s aber, was denken denn Sie von uns, mir san katholisch!“
„Wie oft haben Sie denn in der Woche Geschlechtsverkehr?“

„Jetzt aber raus, Sie können uns doch nicht bis aufs Hemd aushorchen, schamen S’ Iahna nicht? Wir sagen kein Wort mehr … aus … Ende … raus … raus!“

Der Bauer hatte die ganze Zeit kein Wort gesprochen und nur regungslos dagesessen. Allein seine Frau führte das Wort.
Schnell raffe ich meine Sachen zusammen und stürze aus dem Haus.

Ein erneuter Misserfolg. Kein Grund, aber das Sexualleben des deutschen Mannes geht mir seitdem am A… vorbei!
Nun ja, mit mir nie wieder, niemals, mir reicht’s!

Das werde ich der Empirischen Meinungsforschung jetzt genauso mitteilen und natürlich jegliche Mitarbeit, möge sie auch noch so empirisch sein, ablehnen.

Schade, das Geld hätte ich so dringend gebraucht!

 

Marlis David

 

 

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