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29. Juni 2021

Totes Feld (Teil4)

Rückblick – so endete Teil 3:

Oliver
Für einen Augenblick blieb mir das Herz stehen, als ich die Leinwand auf der Staffelei stehen sah. Die Leinwand, die ich im Schlaf bemalt hatte. Die ich gestern zu jenen gestellt hatte, die ich zum Re­cyclinghof bringen wollte.
Nun stand sie wieder auf der Staffelei. Doch nicht bloß das, es waren weitere Formen hinzugekommen. Sie verteilten sich auf der Leinwand, ohne einander zu berühren. Auf der Staffeleiablage lag ein Pinsel mit angetrockneter schwarzer Farbe.
Einen Moment lang stand ich fassungslos davor, dann begriff ich: Das Gemälde malte sich von selbst. Ich konnte es zwar wegstellen, doch ich würde es nicht loswerden. Das Gemälde haftete an mir wie ein Schatten – denn es wollte etwas von mir.

Thriller von Andreas Richter

Junge
Der Junge hatte vier Geschwister, doch nur drei lebten noch. Da waren die zwei Mädchen, die auf den Tag gleich alt waren und einander glichen wie ein Ei dem anderen. Dann kam er. Anschließend sein Bruder, der jedoch kurz nach der Geburt gestorben war. Und dann war da noch das Baby, ein Mädchen, das der Vater nie ansah und nie in den Arm nahm.

Manchmal dachte der Junge, dass die Mutter ihn weniger gern hatte als die Zwillinge. Die Mutter war gut zu ihm, doch für die Mädchen nahm sie sich mehr Zeit. Sie machte ihnen in aller Ruhe die Haare, und anschließend benahmen sich die Mädchen ihm gegenüber immer so, als seien sie etwas Besonderes. Das machte den Jungen manchmal traurig und wütend, doch er versuchte es sich nicht anmerken zu lassen.

Der Vater war ein schweigsamer Mann. Er arbeitete viel und versorgte die Familie, so gut es ihm möglich war. Er brachte dem Jungen das Schnitzen bei, und als der Junge geschickt genug war, schenkte er ihm ein eigenes Schnitzmesser. Das Messer war der ganze Stolz des Jungen, und weil er es von seinem Vater bekommen hatte, dem besten Schnitzer soweit der Junge denken konnte, trug er es immer bei sich.

Eines sonnigen Tages, als der Junge vor dem Haus auf dem Boden saß und dabei war, der Mutter einen Kochlöffel zu schnitzen, stand plötzlich ein fremder Mann vor ihm. Der Junge erschreckte. Er hatte den Mann nicht kommen hören.

„Ist der Vater zurück?“, fragte der Mann streng. Er war gut gekleidet und stützte sich, obgleich er noch nicht alt war, auf einen Gehstock aus Kirschbaumholz.

Der Junge schüttelte den Kopf. Er spürte, dass etwas Bedrohliches in der Luft lag.

„Wo ist die Mutter?“

Der Junge deutete auf das Haus und umfasste das Schnitzmesser fester. Vielleicht würde er es zu seiner Verteidigung brauchen.

Doch dazu kam es nicht. Ehe der Junge sich versah, holte der Mann aus und schlug ihm den Gehstock an die Schläfe. Der Junge verlor das Bewusstsein.

Ohne sich auf den Gehstock zu stützen, ging der Mann auf das Haus zu.

Oliver
Auch diesmal hatte ich Türen und Fenster untersucht, doch wieder nichts entdeckt, was auf einen mit Gewalt verschafften Zugang hinwies. Was bedeutete, dass von der neuen Haustür ein Schlüssel im Umlauf war, von dem ich nichts wusste, oder dass eine Person sich im Haus versteckt hielt. Allerdings war Möglichkeit eins so gut wie ausgeschlossen und Möglichkeit zwei war nahezu unwahrscheinlich.

Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel. Mit einem Becher Kaffee in der einen und der Leinwand in der anderen Hand ging ich nach draußen. Ich stellte die Leinwand auf den Rasen und lehnte sie an die Rotbuche, den einzigen Baum im Garten. Dann trat ich einige Schritte zurück und betrachtete das Bild. Ich hatte die leise Hoffnung, dass es draußen anders wirkte als drinnen, dass ich im Freien darin etwas entdecken würde, das Bild lesen könnte, es verstünde.

Doch nichts dergleichen geschah. Auch nach längerer Betrachtung blieb es eine weiße Leinwand mit nichts außer einigen Formen in schwarzer Farbe. Eine Leinwand, die sich scheinbar von allein bemalte.

Doch das war nicht möglich.

Aber es geschah. Ich war schließlich nicht verrückt. Oder etwa doch? Vielleicht hatte das jahrelange Trinken bleibende Schäden hinterlassen. Ich wusste es nicht. Ich wusste gar nichts mehr, das Ganze verwirrte mich restlos.

Ohne die Leinwand mitzunehmen kehrte ich ins Haus zurück. Ich schnappte mir den Laptop und fütterte Google mit allem, was mir einfiel, um auf Einträge zu stoßen, in denen es um Leinwände ging, die sich auf geheimnisvolle Weise selbst bemalten. Natürlich stieß ich auf nichts, mit dem sich auch nur das Geringste anfangen ließ. Das machte meine Laune nicht wirklich besser.

Meine Gedanken drehten sich im Kreis und irgendwann wurde mir das Haus zu eng. Ich brauchte Abwechslung und musste unter Menschen, doch das sagte sich so leicht. Es war Sonntag, ich wohnte noch keinen Monat in Hamburg und hatte mir noch keinen Freundeskreis aufgebaut.

Jedoch hatte mein Nachbar erst gestern die Einladung zum Kaffee erneuert. Vielleicht sollte ich sie annehmen. Es konnte nicht schaden, die direkten Nachbarn etwas näher kennenzulernen.

Ich sah auf die Uhr. Es war Mittag. Nicht die beste Zeit, um am Sonntag auf ein Käffchen bei den Nachbarn zu klingeln. Allerdings hatte ich einen kleinen Plan im Kopf, damit es nicht peinlich werden würde.

Junge
Als der Junge an diesem Morgen aufwachte, fühlte er sich gut wie lange nicht. Er hatte keine Schmerzen und wähnte sich ausreichend bei Kräften um aufzustehen. Er stieg aus dem Bett. Einen Moment lang war ihm schwindelig, dann stand er sicher.

Der Junge trug ein Hemd, das nicht ihm gehörte. Es reichte ihm bis zu den Füßen. Die Ärmel waren abgeschnitten. Der Junge fragte sich, wo seine Kleidungsstücke waren. Und das Schnitzmesser. Das Messer war wichtiger als alles andere.

Der Junge wollte die Tür öffnen, doch sie war verschlossen. Er hämmerte gegen die Tür und wartete. Doch niemand öffnete. Der Junge lauschte. Nichts war zu hören, und da wurde dem Jungen klar, dass er alleine im Haus war. Wo auch immer es stand.

Traurig verkroch er sich ins Bett. Er zog die Decke über den Kopf und lauschte der Stimme, die flüsterte, dass er sich geirrt hätte. Dass dies kein guter Ort sei. Dass er von hier verschwinden müsste.

Ganz schnell.

Oliver
Silke öffnete die Haustür und sah mich überrascht an. Ich hielt das leere Milchkännchen in die Höhe und sagte mit gespielter Verlegenheit, dass ich vergessen hätte Milch zu kaufen und schwarzen Kaffee nicht runterbekäme. Beides stimmte nicht.

Sie sagte, natürlich helfe sie mit Milch aus, und wie der Zufall es so wolle, laufe gerade Kaffee durch die Maschine und ich sei herzlich willkommen mit Jens und ihr einen zu trinken. Jens – ich war froh, wieder zu wissen, wie mein Nachbar mit Vornamen hieß, und nachdem Silke mir versicherte, dass ich nicht störte und sie immer erst am Abend warm äßen, nahm ich die Einladung an.

Wir saßen auf der Terrasse hinterm Haus, tranken aus Porzellantassen und aßen selbstgebackene Kekse. Selbstverständlich kam die Frage, was mich nach Lemsahl-Mellingstedt verschlagen hatte, und ich erzählte eine kurze und sehr freie Version meiner vergangenen Jahre. Die Sache mit dem Trinken erwähnte ich nicht, wir kannten einander ja kaum.

„Und?“, fragte mich Jens auf die Weise, die einen abrupten Themenwechsel einläutet. „Gestern alles erkundet?“

„Ja, und auch etwas ziemlich Seltsames entdeckt. Ganz in der Nähe. Dieses Grundstück, ihr kennt es sicherlich. Dort wächst nicht mal Unkraut, da ist nur toter Boden.“

„Als habe man hochradioaktiven Schlamm direkt vom Muldenkipper abgeladen“, murmelte Jens.

„Was ist dort passiert?“, fragte ich.

„Das weiß niemand mit Sicherheit“, sagte
Silke. „Es könnte mit dieser alten Geschichte zusammenhängen, die sich dort abgespielt hat.“

„Jetzt bin ich aber gespannt“, sagte ich mit gespielter Heiterkeit. Tatsächlich platzte ich vor Neugierde.

Silke begann: „Vor zwei, drei Jahrhunderten und noch länger zurück waren die Walddörfer vergleichsweise dünn besiedelt und viel waldreicher als heute. Für die Verwaltung der Walddörfer war der sogenannte Waldherr zuständig. Der Waldherr war ein aus dem Hamburger Rat gewählter Senator, der vom Waldvogt unterstützt wurde.“

„Unterstützt ist gut“, sagte Jens abfällig. Dann, an mich gewandt: „Kannst du mit dem Begriff Waldvogt etwas anfangen?“
Ich schüttelte den Kopf.

„Der Waldvogt war eine Art oberste Forstbehörde“, erklärte Jens. „Aber eigentlich war er ein Sonnenkönig. Das verliehene Mandat des Waldherrn gab ihm eine große Machtfülle. Der Waldvogt war beim Durchsetzen seiner polizeilichen Aufgaben nicht auf sich allein gestellt. Ihm unterstanden Forstbeamte, Waldreiter und Forstknechte. Vor allem Letztere waren zumeist echtes Gesindel, das den hart arbeitenden Menschen abpresste, was es nur bekommen konnte. Da die Forstknechte zusammenhielten, galt das Gesetz des Schweigens. Wer dennoch den Mund aufmachte oder einem Forstknecht eine Abreibung verpasste, musste mit Vergeltung der ganzen Bande rechnen. Getötetes Vieh, vernichtetes Getreide, zerstörtes Handwerkzeug, Vergewaltigungen … – die meisten Forstknechte waren alles andere als zimperlich. Den Waldvogt kümmerte es im Regelfall nicht. Ihm ging es allein darum, dass seine Laufburschen ihm die einfachen Leute vom Hals hielten und der Holzstrom in die wachsende Hansestadt nicht abriss.“
„Verstehe“, sagte ich. „Die Hamburger Kaufleute benötigten das Holz für den Bau von Schiffen und Gebäuden. Holz war so etwas wie das damalige Gold.“

„Richtig, aber Holz war auch für die in den Walddörfern lebenden Menschen die Lebensgrundlage. Sie brauchten es zum Bauen, für die Herstellung von Arbeitswerkzeug, als Tauschmittel. Und zum Heizen. Insbesondere während der Wintermonate war Holz das Wichtigste überhaupt. Das Leben hier draußen hatte es zu jeder Jahreszeit in sich, doch im Winter wurde es extrem. Damals waren die Winter viel grimmiger und rauer als heute. Die Kälte kroch in die Häuser, und wer sich für die langen Wintermonate nicht ausreichend mit Holz und Mais zum Heizen und Kochen bevorratet hatte, dem drohten Hunger, Krankheiten, Erfrierungen und Tod. Also drehte sich während des ganzen Jahres alles um die Beschaffung von Holz. Die Menschen rodeten wild und stahlen Holz. Der Waldvogt war angewiesen, jeden Dieb, der von seinen Schergen erwischt wurde, mit großer Härte bestrafen zu lassen. Da wurden auch schon mal die Schwurfinger von der Hand abgehakt. Natürlich gab es in der Geschichte der Walddörfer auch nachgiebige Waldvögte, doch sie machten es nicht lange. Entweder verloren sie das Amt oder ihre eigenen Handlanger machten sie kalt. Damals war ein Menschenleben nicht viel wert.“

Jens hörte auf zu reden und trank einen Schluck Kaffee. An der Art, wie er mich über den Tassenrand hinweg ansah, erkannte ich, dass er von mir hören wollte, dass ich beeindruckt war.

Und da ich es tatsächlich war, fragte ich anerkennend: „Woher weißt du das alles?“

„Jens ist passionierter Heimatforscher“, antwortete Silke für ihn. „Er weiß viel über die Walddörfer.“

„Aber nicht genug“, knurrte Jens. „Immer wieder habe ich versucht, alles über dieses tote Stück Land herauszufinden, doch es ist mir nicht gelungen. Insofern kann ich dir leider nicht die vollständige Geschichte liefern.“

„Ich nehme auch die unvollständige“, sagte ich.

„Also gut“, sagte Jens und beugte sich vor, um mit dem Erzählen zu beginnen.

Junge
Seit Stunden dachte der Junge an nichts anderes, als dass er flüchten musste. Wenn er doch bloß sein Schnitzmesser hätte. Dann könnte er ein Loch in die Wand schnitzen oder die Frau, wenn sie das nächste Mal in den Raum käme, am Bein verletzten, so dass sie ihn nicht verfolgen konnte, wenn er davonlief. Wenn er doch bloß ein Riese wäre. Dann könnte er alles einreißen und niederstampfen. Doch diesmal reichte es nicht aus, sich vorzustellen zum Riesen zu wachsen. Es änderte nichts. Er blieb ein Junge, der eingeschlossen war wie ein Gefangener.

Als der Junge so erschöpft und mutlos war, dass er kurz vorm Einschlafen war, flog ihm eine Idee zu. Wenn er das Schnitzmesser schon nicht hatte, brauchte er eine andere Waffe. Plötzlich war der Junge hellwach. Es gab eine Möglichkeit, die Frau zu überraschen. Doch dafür musste er mutig und stark sein. Wie ein Riese.

Oliver
„Dort, wo heute nichts mehr wächst, stand vor mehr als zweihundert Jahren ein Haus“, begann Jens. „Darin lebte eine für die damalige Zeit typische Familie. Großeltern, Eltern, vier Kinder, alle Generationen unter einem Dach. Wenig Platz, keine Rückzugsorte, vermutlich hatten nicht alle ein eigenes Bett. Wie gesagt, es waren raue Zeiten und die Tage waren bestimmt von harter Arbeit. Wie die meisten anderen Männer in der Gegend auch, hielt der Vater die Familie mit Holzfällen über Wasser. Zudem verdingte er sich als Schnitzer, was nach heutigen Berufsbildern dem Holzbildhauer nahekommt. Er muss sein Handwerk gut verstanden haben, denn nachweislich hat er an der Verzierung mehrerer Gebäude in Hamburg mitgewirkt. Für diese Tätigkeit dürfte er besser entlohnt worden sein als fürs Holzfällen, doch es bedeutete auch, dass er wochen- oder monatelang von Zuhause fort war. Ob er auch an jenem Tag fort war, als das Haus der Familie überfallen wurde, ließ sich nicht herausfinden. Doch er wurde nach dem Überfall nie wieder gesehen. Die anderen Familienmitglieder ebenfalls nicht. Vermutlich wurden alle getötet und anschließend weit verstreut verscharrt.“

Ich hatte gebannt zugehört. „Wer hat die Familie überfallen?“, fragte ich. „Die Truppen des Waldvogts?“

Jens nickte. „Vermutlich wurden sie geschickt, um kurzen Prozess zu machen.“

„Weshalb?“

„Weil die Leute angefangen hatten zu reden. Über das Baby der Familie. Ein Mädchen.“

„Was war mit ihr?“

„Sie wurde außerehelich gezeugt.“

„Vom Waldvogt?“

Jens schüttelte den Kopf.

Ich verstand nicht. „Weshalb hat er dann seine Leute geschickt?“

Anstatt meine Frage zu beantworten, stand Jens auf und ging ins Haus. Kurz darauf kam er wieder raus. Er hielt einen Aktenordner in der Hand.

Junge
Nach einer traumlosen Nacht wachte der Junge auf. Er hatte fest geschlafen und fühlte sich erholt und gut bei Kräften. Noch bevor er die Augen aufschlug, hatte er den Geruch einer brennenden Kerze in der Nase. Er war nicht allein. Die Frau war hier.

Eine Zeitlang tat der Junge so, als schliefe er. Wieder und wieder ging er durch, was er zu tun hatte. Es musste beim ersten Mal klappen. Der Junge dachte an die Mutter und den Vater und die anderen. Er sprach sich Mut zu, und als er überzeugt war mutig genug zu sein, schlug er die Augen auf.

Die Frau saß auf dem Stuhl und betrachtete ihn mit ernstem Blick. Auf ihrem Schoß lag ordentlich zusammengelegte Kleidung. Der Junge erkannte eine Hose und eine Jacke aus grauem Stoff sowie ein Hemd. Obendrauf lag eine Schere. Vermutlich, um den zu langen Stoff abzuschneiden, denn offensichtlich war die Kleidung für ihn vorgesehen.

Der Junge dachte sich, dass die Frau gekommen war, um ihn mitzunehmen. Wohin auch immer sie mit ihm gehen würde. Ihm kam der Gedanke, dass die Frau ihn nur deshalb gesund gepflegt hatte, um ihn zu verkaufen wie ein Stück Vieh.

Der Junge verließ das Bett. Er ging an der Frau vorbei, hob das Hemd an und hockte sich über den Eimer. Während er seine Blase leerte, sah er zu der Frau. Sie beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Der Junge schätzte den Abstand zwischen ihm und ihr. Zwei Schritte. Es musste schnell gehen und er durfte währenddessen nicht nachdenken. Dann würde es klappten.

Der Junge erhob sich. Das Hemd fiel ihm über die Knie. Er blickte in den Eimer, der gestern zuletzt geleert worden war. Jetzt, sagte er sich, bevor sie aufsteht. Er umfasste mit beiden Händen den ledernen Tragegriff des Eimers und hob ihn an. Der Eimer war schwer, aber nicht zu schwer. Plötzlich schien die Frau zu ahnen, was der Junge vorhatte, denn sie wandte sich ihm mit aufgerissenen Augen zu und setzte gleichzeitig zum Sprechen und zum Aufstehen an.

Doch dazu kam sie nicht. Der Junge machte einen Schritt auf sie zu, holte mit Schwung aus und schlug mit ganzer Wucht zu. Er wollte den Kopf an der Seite treffen, dort, wo ihn vor einigen Tagen der Gehstock des Fremden schlafengelegt hatte. Doch er traf die Frau unterhalb des Auges. Das Jochbein brach mit einem trockenen Knacken und mit einem Schrei kippte die Frau vom Stuhl. Ihr Kopf schlug hart auf den Boden auf.

Der Junge ließ den Eimer fallen und sah die Frau erschrocken an. Sie hielt sich das Gesicht, war nass vom Urin des Jungen und kreischte vor Schmerz und Wut.

Einen Moment lang war der Junge wie gelähmt, dann spürte er, dass sich etwas auf seine Schulter legte. Es war die Hand der Mutter, die neben ihm stand. Sie lächelte und in ihren Augen stand: Lauf!

Der Junge entdeckte die Schere, die neben der Frau lag. Mit einer schnellen Bewegung schnappte er sie. Dann raffte er das Hemd und lief zu Tür. Welch Glück, sie war nicht verriegelt. Der Junge zog sie auf. Helles Tageslicht schlug ihm entgegen. Der Junge schaute noch einmal zur Frau, die sich wie von Sinnen schreiend aufrappelte. Er war sicher, dass sie ihn töten würde, wenn sie ihn in die Finger bekäme. Sie durfte ihn nicht erwischen.

Der Junge wusste nicht, in welche Richtung er laufen sollte. Doch er hatte keine Zeit darüber nachzudenken. Dicht hinter sich hörte er ein Schnauben. Er blickte über seine Schulter und sah, dass die ausgestreckte Hand der Frau nach ihm griff.

Er rannte los.

 

Andreas Richter

 

 

 

Andreas Richter
ist freier Autor und Texter und lebt in Ahrensburg.
Nach „Endstation Brook“ (2014) und „Patricias Geheimnis“ (2019) ist „Totes Feld“ seine dritte Fortsetzungsgeschichte für den Duvenstedter Kreisel.

Mehr über Andreas Richter auf www.andreasrichter.info