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28. Juni 2021

Mauern einreißen

Kurzgeschichte von Marlis David

Langsam, fast andächtig schreite ich durch den Wald. Mein Blick sucht den Himmel, der durch die Schatten spendenden Baumkronen kaum sichtbar ist. Nur hin und wieder leuchtet ein tiefes Blau durch die verzweigten Wipfel. Diese Ruhe hier, ich höre nur den Gesang verschiedener Vogelarten. Es fällt mir schwer die Vogelstimmen zu unterscheiden. Früher konnte ich es, ja früher … das ist lange her. Unvermittelt stehe ich an einer Lichtung. Der frühe Dunst des Sommersonnenlichtes flimmert vor meinen Augen.

Auf der hochgewachsenen Wiese steht wilder Mohn, dazwischen blaue Kornblumen, einzelne versprengte Getreidearten. Die Sonne hüllt alles in ein mildes, verschwommenes Licht. Lange stehe ich versonnen da, betrachte dieses friedliche Bild, als wäre es ein kostbares Gemälde.

Behutsam streife ich meine Sandaletten von den Füßen, löse meine Haarspange, bevor ich mich mit einem tiefen Seufzer in die herrliche Wiese fallen lasse. Dieses intensive Empfinden zu spüren, mit all meinen Sinnen, ist das größte Geschenk für mich.

Durch die langen Jahre meiner Haft em­pfand ich mehr und mehr eine Verrohung meiner Gefühlswelt, meiner Seele. Fünfzehn Jahre … da hat man den Duft eines feuchten Waldbodens vergessen, auch das Gefühl der warmen Sonne auf der Haut,  den wundervollen Moment, in dem die Sonne durch die Baumkronen bricht, um lange Silberstreifen bis zur Erde zu ziehen.

Durch ein Kitzeln auf der Nase werde ich wach. Ich muss eine Weile erschöpft geschlafen haben. Der Himmel hat sich inzwischen verdunkelt. Aus einer schwarzen Wolke fallen dicke Tropfen. Gemächlich stehe ich auf, recke und strecke mich. Ich stehe auf der Wiese, breite die Arme aus und fange an laut zu schreien, aus Leibeskräften, so als ginge es um mein Leben. Alles schreie ich heraus, die ganze Not meiner wunden Seele.

Meine Haare hängen jetzt triefnass herunter, der Regen rinnt mir über das Gesicht. Meine Kleidung klebt völlig durchnässt an meinem Körper. Ich drehe mich im Kreise, schneller … immer schneller, bis ich total erschöpft zusammensacke. Von Weinkrämpfen geschüttelt verharre ich eine endlos scheinende Zeit.

Beschwingt erhebe ich mich, fühle mich befreit, so als hätte ich eben fünfzehn lange, düstere Jahre abgeschüttelt. Barfuß laufe ich über den mit Moos bewachsenen Waldboden. Jeder Schritt auf diesem kühlen, feuchten Boden gibt mir das Gefühl einer großen Freiheit. Vor Glück möchte ich die ganze Welt umarmen.

Jawohl, ich habe meine Strafe verbüßt! Fünfzehn Jahre gelitten, jetzt bin ich frei!
Langsam perlen die Regentropfen über die hellgrünen Blätter der Farne, sie hängen wie Diamanten an den gezackten Rändern. Tränen benetzen meine Wangen, ich lasse ihnen freien Lauf.
„Die unbestimmbaren Schuldgefühle, sie könnten mich eines Tages vernichten“, geht es mir durch den Kopf.

Ein leichter Schauer läuft mir über den Rücken, lässt mich erzittern. Ich empfinde meine nassen Kleider wie eine zweite Haut. Als Judith mich damals das erste Mal berührte, hatte ich das gleiche Gefühl; es war ein Schauer der Wonne. Wie konnte sie es nur darauf anlegen, mich so sehr an sich zu binden? Bevor ich Judith traf, hatte ich niemals etwas für Frauen empfunden. Diese neue Seite an mir stürzte mich in tiefste Verzweiflung. Durch unseren teuflischen Plan musste Enno sterben. „Es ging doch jahrelang gut mit unserer Dreierbeziehung“, sinniere ich. Warum kam nur diese entsetzliche Eifersucht ins Spiel?

Das Wasser quillt durch meine Zehen – herrlich, dieses Gefühl der Freiheit. Direkt vor mir steht ein mannshoher Farn, in den ich mich jetzt fallen lasse. Trauer und Wut, ein Wechselspiel der Gefühle, kommt in mir hoch, wenn ich an Judith denke. Warum musste sie sich davonstehlen, sich mit Tabletten aus der Krankenstation das Leben nehmen? Konnte sie die Gefangenschaft nicht mehr verkraften? An mich hat sie dabei nicht einen Moment gedacht!

Unsere Liebe ist ganz langsam, mit jedem weiteren Monat in Haft, gestorben. Schleichend wurde aus Liebe tiefer Hass, das hat sie wohl nicht mehr ertragen.

Der Regen hat aufgehört. Die ersten Sonnenstrahlen suchen ihren Weg durch die dichten Baumkronen. Große Regentropfen fallen von den Blättern direkt auf mein Gesicht, aber ich beachte sie gar nicht. Eingehüllt in große Farnblätter, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, denke ich noch einmal über das Geschehene nach.

Es ist nicht mehr rückgängig zu machen, das habe ich mir immer und immer wieder in meiner Zelle vor Augen geführt. Dieser furchtbare Zwang, in den wir uns hineingesteigert hatten. Wir wollten füreinander frei sein. Enno stand uns im Wege. Unser Entschluss stand fest.

Meinen Mann, die Bronzestatue, alles sehe ich wieder vor mir. Tausendmal habe ich es schon bereut. Judith hat niemals ein Wort des Bedauerns über die Lippen gebracht, hat mich einfach verlassen. Ihre Mitschuld an Ennos Tod hat sie durch ihren Selbstmord gesühnt. So einfach war das. „Wie ich dich hasse, wie ich dich hasse, Judith!“

Langsam richte ich mich auf, nehme die Sandaletten in die Hand, beginne zu laufen. Nach einer halben Stunde verspüre ich Schmerzen in den Beinen und Füßen. Früher hatte ich diese Probleme nicht, ich war immer topfit.

Vor mir liegt jetzt der weiße, breite Elbstrand, er ist zu dieser Zeit menschenleer. Das Geräusch der wiederkehrenden Wellen beruhigt meine aufgewühlten Emotionen. Meine Füße graben sich tief in den an der Oberfläche feuchten Boden. Mit den Zehen versuche ich den Sand zu halten, aber er rinnt immer wieder durch sie hindurch. Es erinnert mich an eine Sanduhr.

„Genauso schnell vergeht die Zeit“, denke ich erfreut. „Die Zeit heilt die Wunden“, sagt der Volksmund, vielleicht stimmt’s ja.

„Frau Georgi, ich entlasse Sie jetzt in die große Freiheit, hoffentlich wissen sie damit etwas anzufangen. Machen Sie noch etwas aus Ihrem Leben. Ich hoffe, wir werden uns niemals wiedersehen!“
Plötzlich kommt ein Glücksgefühl in mir auf, während ich an die letzten Worte des Direktors der Haftanstalt denke.

Die ersten Schritte habe ich getan … die Mauern sind überwunden.

 

Marlis David

 

 

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