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18. September 2020

Die Woche 33

von Gabriela Lürssen

Jetzt fragen Sie sich wahrscheinlich, was der Titel zu bedeuten hat, die Woche 33, stimmt’s? Die Woche 33 in diesem Jahr ist die Woche, die sich eklatant von den knapp sechs Wochen davor unterscheidet – wie Tag und Nacht, wie Apfel und Birne, wie Pilawa und Kerner. Ich finde, dass diese besondere Woche mal eine Erwähnung verdient hat.

Montag in Woche 33.
Dieser Tag beginnt friedlich, ruhig und noch ziemlich entspannt. Ein paar Heimkehrer oder Neustarter sind schon auf den Straßen zu finden. Viele sind ganz einfach an ihrer mehr oder weniger gebräunten Haut und ihren teilweise ausgeblichenen Haaren zu erkennen. Zwei scheinen verschlafen zu haben, da sie noch ihr Nachthemd tragen. Und diese weißen und rosafarbenen Nachthemden sind so kurz, dass sie mit ersten Knitterfalten nur noch als T-Shirts durchgehen. Stellen Sie sich mal vor, wie schnell Sie eine Anzeige wegen „Underskirting“ am Hals haben, wenn Sie Ihr Handy ganz normal halten. Obwohl, für T-Shirts gilt das eigentlich doch nicht, oder? Dazu tragen die beiden Frauen, die gerade an der Bushaltestelle warten, riesige Sonnenbrillen – zusammen mit den Alltagsmasken ist das schon fast Vermummung, wenn da nicht die Stofffreiheit an den Beinen wäre … Und genau diese Stofffreiheit hat auch etwas Positives: Die Frauen brauchen sich nicht um rückstandslose Fleckentfernung auf den hellen Stoffen zu kümmern, wenn sie sich auf die nicht immer sauberen Sitze im Bus setzen.

Und dann gibt es da noch die Heimkehrer oder Neustarter, die in überwiegend dunklen oder schlammfarbenen Autos unterwegs sind und viel zu schnell in Wohngebieten fahren. Aber vielleicht erkennen die auch gar nicht, dass es sich hier um Wohngebiete handelt, weil die Bäume so schön in vollem Laub stehen und die Häuser verdecken – bei entsprechendem Fahrtempo. Möglicherweise ändert sich das, wenn die Bäume irgendwann der neuen Gestaltung der Magistralen zum Opfer fallen, wer weiß. Wenn die Polizei schon früh wach wäre und von jedem Raser einen entsprechenden Betrag fordern würde, dann könnte sie in ihrem Palast in Alsterdorf ihre normalen Wasserhähne gegen goldene austauschen.

Die dritte Gruppe ist zu Fuß unterwegs. Die Personen gehen vielleicht zu einer Bushaltestelle oder zu einem anderen Ziel. Sie treten nicht in Rudeln auf und verhalten sich relativ unauffällig. Viele haben eine Kopf- und Körperhaltung, die jedem Orthopäden das Einkommen auf Jahre hinaus sichert. Bei manch einem beobachte ich noch einen leichten Dämmerschlaf. Das kann extrem gefährlich werden, denn Hamburg ist zwar eine reiche Stadt, aber das spiegelt sich nicht unbedingt in der Qualität der Fußwege wider. Und während ich noch über den Sanierungsstau nachdenke, kommt schon eine Fußgängerin, zehn Meter vor meinem Beobachtungsfenster, leicht ins Wanken. Aber sie fällt nicht hin. Was für ein Glück! Was sollte die arme Frau bloß ohne ihr Handy machen? Es wäre ja alles weg. Wahrscheinlich sogar die Telefonnummer von ihren Eltern und die Bewegungs-App wäre auch nicht mehr da. Der persönliche Super-GAU. Später komme ich an einem Geschäft für Schul- und Büroartikel vorbei. Dort sehe ich vermehrt Frauen und Männer mit Kindern. Ich vernehme erstes Hupen auf dem Parkplatz, als ich an dem Geschäft vorbeigehe.

Dienstag in Woche 33.
Morgens höre ich zunehmend diese lieblichen Hup-Töne. Ja richtig, Autohupen. Solche Outdoorwecker mit Erinnerungs- und Nichtwiedereinschlaffunktion sind ideal. Mehr Sparen geht fast nicht. Man braucht keine Batterien zu kaufen und muss sie später auch nicht entsorgen oder man spart Strom, wenn man einen elektrischen Wecker hat oder irgendeinen Akku aufladen muss. Ein dickes Dankeschön an alle Huper auf diesem Weg. Aber andererseits, wer will auch schon ausschlafen? Schlafen wird doch sowieso überbewertet und Sonnenaufgänge haben doch auch ihren Reiz. Und alle Schichtarbeiter, Kranke, Ältere und Migränepatienten, die die vergangenen Wochen daheim geblieben sind, weil sie etwa keine schulpflichtigen Kinder haben, die konnten sich doch nun wirklich ausreichend entspannen.

Ging ich in den zurückliegenden Wochen entspannt auf dem Fußweg, so höre ich jetzt wieder ein Geräusch. Ein Geräusch, das mir irgendwie entfernt bekannt vorkommt. Ich muss jetzt altersgerecht mein Langzeitgedächtnis befragen. Augenblick … zwischen den Ohren und dem Gehirn findet ein reger Erinnerungsaustausch statt. Plötzlich fällt es mir ein, ich erkenne das Geräusch. Es kommt von einem Fahrradfahrer samt Anhänger, und der wird erfahrungsgemäß gleich seine Klingel nutzen, weil ich mit meinem kleinen Zeh vielleicht einen Millimeter zu weit auf dem Radweg bin. Was soll ich denn machen, wenn auf dem Fußweg ein Handwerkerauto steht? In der Fahrschule habe ich gelernt, dass der Erste, der an einem Hindernis ist, auch als Erster an diesem vorbeifährt. Aber nicht jeder Fahrradfahrer hat einen Führerschein. Am besten ist, mein kleiner Zeh nähert sich kurzfristig meinem großen Zeh, damit das Zeitmanagement des Radlers nicht gestört wird.

Kaum ist der vorbeigefahren, höre ich ein weiteres Geräusch. Ich drehe mich um und sehe zwei Jungen, die auf ihren Skateboards, oder wie die Dinger jetzt auch immer heißen, auf dem Fußweg fahren. Nicht schlimm? Stimmt. Nicht schlimm, solange sie nicht die ältere Dame, die vor mir in der Mitte des Fußweges geht, zwingen, in die dornigen Rosensträucher des nächsten Vorgartens zu springen.

Als Mensch über fünfzig muss man blitzschnell entscheiden, ob man sich für einen Hackenauffahrunfall, Oberschenkelhalsbruch oder doch diesen besonderen Seitensprung entscheidet. Die Jungs fahren an der Dame und mir vorbei, hui, das war aber so was von knapp.

Ich muss noch schnell ein paar Teile einkaufen. Der Parkplatz ist nur zu einem Drittel gefüllt. Der Laden ist ebenfalls richtig schön leer. Also schön für mich als Kunde, schlecht natürlich für den Umsatz. Ich bin sowieso kein Langzeitshopper und erst recht nicht in Corona-Zeiten. Aber vielleicht ist es für viele auch noch zu früh für das Shoppen am Dienstag in Woche 33.

Mittwoch in Woche 33.
Ein mittleres Hupkonzert lässt mich senkrecht im Bett sitzen. Es ist gerade sechs Uhr. Wer muss hier morgens im idyllischen Alstertal so hupen? Ich schaue aus dem Fenster und sehe nur noch die Rücklichter eines Linksabbiegers, der sich wahrscheinlich wieder den Weg freihupen musste. Mal zu warten, bis man freie Fahrt hat, scheint aus der Mode gekommen zu sein. Wenn ich jetzt schon wach bin, dann kann ich auch gleich aufstehen, denke ich mir. Aus Erfahrung weiß ich, dass ich sowieso nicht wieder einschlafen kann. Meine Entscheidung bekomme ich in der nächsten Stunde mehrfach bestätigt. Ich muss mich mal mit dem Kultursenator zusammensetzen, vielleicht hat der eine Idee, wie die Extremhuper in der Elphi mal ein Konzert geben können. Das Problem wird nur sein, die große Anzahl von SUVs in den Konzertsaal zu bekommen. Aber Probleme sind da, um gelöst zu werden. Auf dem Weg zum Saseler Markt merke ich schon, dass es ein wenig voller ist als in den vergangenen Wochen.

Ich habe das Gefühl, dass die Stimmung brodelt. Die Stimmung zwischen Fahrrad- und Autofahrern, die Stimmung zwischen Autofahrern und Fußgängern. Und natürlich auch die Stimmung zwischen Fußgängern und Fahrradfahrern. Ich frage mich, ob das der Irrsinn vorm Donnerstag ist. Dem ganz besonderen Donnerstag.

Donnerstag in Woche 33.
Der Höhepunkt ist erreicht. Sie sind alle wieder da.

Die großen und überwiegend schwarzen Autos, die häufig von klein wirkenden Frauen mit Pferdeschwänzen gelenkt werden, die kaum über das Lenkrad schauen können. Auf der Rückbank sitzt zu 99,9 Prozent ein kleines Kind, dessen Alter man durch die dunkel getönten Scheiben schlecht erkennen kann. Entweder wird dieses zur KiTa oder zur Grundschule gefahren. Und die rücksichtslosen Verkehrsberuhigte-Zone-Raser, die immer noch denken, dass die Zahl dreißig auf einem Verkehrsschild vor meinem Fenster sich pro Rad versteht. Meine Hoffnung ist, dass vielleicht der ein oder andere von seinem kleinen Kind während der Home-Office-Zeit erklärt bekommen hat, was dieses Verkehrsschild bedeutet. Jetzt müssen Ben und Lina nur noch ihren Eltern bei der täglichen Umsetzung helfen. Ich hoffe immer, dass die Kleinen endlich mal so selbstbewusst sind und ihren rasenden Helikoptereltern sagen, dass sie Füße zum Gehen bekommen haben und diese auch gern nutzen möchten. Der Gesundheit und der Umwelt zuliebe. Ein paar Gretas mehr auf den Rückbänken würden der Sicherheit, dem (Über-)Leben und der Erde sicherlich gut tun.

Als Daheimgebliebene nehme ich jetzt auch wieder Geräusche wahr, die ich in den vergangenen Wochen fast vergessen hatte. Wie den Girlie-Talk an der Bushaltestelle und die angeregte Diskussion dank Gruppenbildung an der Ampel. Ampelwartende treten selten in gemischten Gruppen auf. Die männlichen Wartenden verweilen deutlich kürzer an der Ampel, bevor sie die Straße überqueren, als die weiblichen.

Die jungen, weiblichen Wesen dieser Heimkehrer und Neustarter begrüßen sich in einer Tonlage, die extrem hoch ist. Danach werden Selfies gemacht. Ich frage mich warum – die Teenager sehen doch fast alle gleich aus. Sie haben einen langen, in der Regel ponyfreien Einheitshaarschnitt. Dazu tragen sie ultrakurze Shorts und pastellfarbene T-Shirts. Höre ich da jemanden sagen, dass Schuluniformen so gar nicht gehen?

Ja, und dann gibt es noch Autofahrer, die einem so richtig leidtun. Ich fahre morgens mit meinem Auto. Irgendwie fährt das Auto vor mir ein wenig komisch. Ich frage mich, was macht der da im Auto? Wieso fährt der Slalom? Aus dem Wintersport kann der nicht kommen, aber vielleicht war er in der Arktis?

Moment mal, wahrscheinlich ist sein Auto kaputt. Ja, so muss sein, denn sein Blinker funktioniert nicht. Und die Bremsen … war da nicht gerade Rot? So ein teures Auto und nun Totalschaden. Der arme Kerl! Ich sehe ihm noch nach, bevor ich an der Ampel zum Stehen komme. Im Radio spielen sie so ein merkwürdiges Stück. Es hört sich irgendwie quietschend an. Oder kam das gar nicht aus den Lautsprechern? Gerade will ich auf meinem Display lesen, wer das singt, da wird die Ampel schon grün. Ich fahre los, muss aber sofort wieder in die Eisen gehen, weil mein Vordermann bremst. Man sieht sich immer zweimal im Leben, denke ich, als ich den großen, dunkelblauen Wagen wahrnehme. Diesmal steht er quer auf der Straße. Es tut mir immer noch leid; erst ist sein Auto ein Totalschaden und dann hat er vergessen, dass er ab heute in Ahrensburg und nicht mehr in Schnelsen arbeitet.

Im Radio sagen sie, dass heute ordentlich was los ist. Stimmt!

Freitag in Woche 33.
Natürlich wird meine Aufwachphase wieder von einem externen Hupkonzert unterstützt. Und wie gestern, findet auch heute das Treffen an der Ampel statt. Diesmal ohne Fotos. Ist ja auch langweilig.

Ich frühstücke und mache mich dann auf den Weg Richtung AEZ. Beim Verlassen meines Grundstücks bemerke ich, dass von links eine Radfahrerin kommt. Ich gehe schnell einen Schritt nach rechts, damit sie an mir vorbeifahren kann. Tja und da ist es passiert. Ich trete gegen einen Roller, der quer auf dem Fußweg steht. Mein Schimpfen beschreibe ich hier lieber nicht. Ein Fußgänger mit Rollator oder ein Rollstuhlfahrer käme nun überhaupt nicht vorbei. Nachdem mein Wut- und Schimpf­anfall vorüber ist und ich mich mit leicht schmerzendem Fuß auf den Weg ins Einkaufszentrum mache, frage ich mich, wie rücksichtslos und egoistisch man sein muss, um einen Roller quer auf den Fußweg zu stellen? Ich finde einfach keine Antwort darauf.

Ich muss mehrere Ampeln überqueren, bevor ich an mein Ziel gelange. Freitags sind morgens meist weniger Autos unterwegs als an anderen Wochentagen. Wahrscheinlich arbeiten viele Menschen von zu Hause oder in Teilzeit.

An der letzten Ampel, an der ich warten muss, steht schon ein älteres Paar. Als die Ampel grün wird, gehe ich über die Straße. Ich bin schon auf der anderen Seite auf dem Fußweg, als ich ein Hupen vernehme. Ich kann nicht gemeint sein, also drehe ich mich um und schaue, was hinter mir passiert. Aber mal ehrlich, es ist aber auch wirklich eine bodenlose Frechheit, dass Oma und Opa morgens im erweiterten Berufsverkehr über den Fußgängerüberweg schleichen, wenn für sie Grün ist. Die Alten sollten wirklich mal in die Gänge kommen. Als Autofahrer, der jeden Tag schuftet, um für die Renten der Alten aufzukommen, hat man doch wohl das Recht, auch mal kräftig auf die Hupe zu drücken. Sind das die Gedanken des Autofahrers? Ich bin erschrocken. Das ältere Paar tut mir so unendlich leid.

Das war die Beschreibung der Woche 33 im Jahr 2020. Das Ferienende in Hamburg-Sasel ist immer wieder ein Erlebnis!

Gabriela Lürßen