Kultur & Unterhaltung

29. November 2023

Worte in der Wüste

ZWISCHEN HAMBURG UND DER FERNE VON WOLF CROPP

An nieselregnerischen November- oder Dezembertagen in Hamburg sehnt sich so mancher aus der Hansestadt nach südlicher Sonne und Wärme. So geht es auch mir heute und ich erinnere mich an meine erste Begegnung mit der Sahara. Allerdings mit recht gemischten Gefühlen. Der Targi Sullahm hat einmal gesagt: „Wenn du die Zeichen lesen kannst, ist dir die Wüste ein vertrauter Garten, wenn nicht, ist sie dein Grab. Inschallah.“

Wir befanden uns auf einer Sahara-Expedition, oben im kaum erforschten Fochini Mourdi-Gebiet, einem Wüstenabschnitt im Norden des Tschad, unweit der libyschen Grenze.

An jenem Abend lagerten wir an einer windabgewandten Seite eines Dünenhangs. Die Zelte waren im Sand aufgebaut, das Abendessen hatten wir am prasselnden Lagerfeuer zu uns genommen. Suleyman und Omar sonderten sich mit einem kleinen Teppich ab, um sich darauf gen Osten, gen Mekka, zu verneigen. Wir rückten im warmen Sand zusammen, sahen die Sonne, die uns den ganzen Tag gequält hatte, unschuldig, mild hinter einem Kamm untergehen, als wollte sie sich mit den Menschen im Sand versöhnen. Suleyman und Omar hatten ihr Gebet verrichtet, schritten barfuß herbei, setzen sich zu uns.

In dieser Stunde, in der die Wüste Atem schöpft, beschlich mich das Gefühl, als gehörten nun auch wir in diese weltenferne Landschaft, deren Horizont sich jetzt violett färbte, uns bald in dunkle Nacht hüllen würde. In dieser Nacht war ich ruhelos und schaute in den flimmernden Himmel. Etwas beschäftigte mich. Die unheimliche Verlassenheit in diesem Teil der Erde? Ich stand auf, spürte den Wind, der Flugsand über den Boden wehte.

Mit einer Taschenlampe ausgerüstet, entfernte ich mich vom Lager. Hinter mir glomm beruhigend das Feuer wie ein Zeichen der Verbundenheit.

Immer geradeaus stapfte ich durch den Sand, es ging etwas aufwärts, etwas abwärts. Berauschend schön war die Nacht. Ein Blick zurück zur Kontrolle: Das Lagerfeuer war weg! Umgeben von Dunkelheit und Stille, leuchtete ich den Boden ab. Nur meine letzten Spuren waren zu erkennen, die anderen verweht.

Natürlich könnte ich jetzt in irgendeine Richtung rennen, rufen, schreien, in Panik geraten. Ich tat nichts dergleichen. Genoss auf sonderbare Weise diese absolute Einsamkeit, diese unheimliche Verlassenheit – ein Gefühl, das ich bisher noch nie erlebt hatte …

Eine Empfindung, die Angst und Euphorie auslöste. So stellte ich mir einen Drogenrausch vor. War das ein Wüstenkoller, der wie ein Tiefenrausch wirkte?

In dieser Nacht war mir, als glitte ich in eine andere Dimension des Bewusstseins. Unbegreiflich, unheimlich und doch wirklich! Und auf einmal kamen mir Gedanken zur Wüste, die ich noch nie hatte: Bleiben, Bewahren, Vergehen – damit assoziierte ich ein Landschaftsbild, die Urlandschaft der Erde: die Wüste, den Erg. Das sind die großen Sand und Dünenmeere der  Sahara. Aus Sand war alles entstanden, zu Sand wird alles werden. Es ist nur eine Frage der Zeit.

In den Wüsten unserer Erde unterwegs zu sein, ist das Reisen durch ein grenzenloses Labyrinth, durch einen Irrgarten, in dem sich der unkundige Eindringling rasch verläuft, umherirrt bis zum Wahnsinn, um dann qualvoll zu verenden.

Über der Wüste lag eine undurchdringliche Stille. Auch Furcht, Angst und Schrecken vor unbesiegbarer Natur lasten auf ihr. Du hörst dein Blut durch die Adern rauschen, den Puls pochen. Und du hörst Worte, die du zuvor nie gehört hast.

Deine Worte?

Nein, es sind die des Schöpfers, der zu dir spricht. Ganz vertraut, als wäre er schon immer bei dir gewesen, nur gehört hast du ihn nie. Es ist kein Wunder, dass große Gedanken in der Wüste entstehen. Besondere Persönlichkeiten schöpften Kraft dort draußen in Askese und Einsamkeit: Moses, Jesus, Mohammed, Gandhi, Ben Gurion und viele andere Gestalten der  Weltgeschichte waren es, die sich in die Wüste begaben und als andere wiederkamen. Schon wahr: Niemand verlässt die Urlandschaft so, wie er sie betreten hat. Non sum qualis exam! (Nicht mehr bin ich, der ich war. Horaz.)

Charles de Foucauld, einst Lebemann in Paris, dann Offizier, schließlich Mönch in der Sahara: „Das Panorama vor meiner Steinklause ist unvorstellbar schön. Ich kann nicht hinsehen auf dieses Meer von Sand, ohne Gott anzubeten.“

Auch Antoine de Saint-Exupéry kam mir in den Sinn: „Die Wüste ist für mich die schönste und traurigste Landschaft.“ Ob er damit ihre zerstörende und zugleich konservierende Kraft meinte?

Es war nur eine Stunde her, dass der Glutball der Sonne hinter der Düne verschwand und die dünne Nahtstelle zwischen Tag und Nacht, zwischen Hitze und Kälte, verblasste. Die Natur schöpfte Atem, erholte sich mit einem erlösenden Seufzer von grausamer Tageshitze.

Ich lief noch einige Zeit in eine Richtung, die mein Gedächtnis für die richtige hielt … Sie war es nicht, denn ich sah keinen Feuerschein, der Lichtkegel der Taschenlampe fand weder Zelte noch Fahrzeuge.

Ich war erschöpft, legte mich in den Sand. Bereitete mich auf die Nacht vor. Wollte schlafen, suchte den Sand ab. Schwarzkäfer bohrten sich aus dem Grund. Hornvipern huschten über den Sand. Ein Skorpion hastete davon. Der Abendwind blies sie weg, die letzten Lebensspuren … Und plötzlich drang herzzerreißendes Jammern an mein Ohr. Ein Baby in der Wüste? Es war
der Laut eines Wüstengeckos!

Während die Dunkelheit ganz plötzlich wie ein Leichentuch herabgefallen war, wölbte sich das berauschende Firmament über mir und ich fühlte mich, von flimmernden Sternen umgeben, wie im Mittelpunkt des Kosmos, der die Gedanken in ungeahnte Sphären trug. Trotz bedrückender Einsamkeit und einer unheimlichen Maß- und Grenzenlosigkeit, fühlte ich mich auf sonderbare Weise geborgen, ja aufgehoben und behütet! Und es war, als befände ich mich hier draußen, im endlosen Ozean des Nichts, in des Schöpfers Hand.

Und hier – wie seltsam auch – erfuhr ich, Nacht und Dunkelheit ausgesetzt, die Wüste als Metapher. Ich erkannte sie mit einem Mal in ihrer Vieldeutigkeit. Erlebte sie als Ikone, als eindringliches Lehrbild und  treffliche Stätte einer viel tieferen Wüste, die überall in der Welt und – vor allem – in jedem Menschen steckt.

Wüste, das ist unser Ausgebranntsein von der Hektik des Alltags und der Oberflächlichkeit menschlicher Begegnungen. Wüste ist das Ausgesetztsein unseres Selbst. Hier, im Schweigen absoluter Einsamkeit, begegnete ich dem gesamten Spektrum des Lebens selbst!

Und abermals in dieser Nacht, kam mir Foucauld in den Sinn: „Schweigen bedeutet ganz das Gegenteil von Vergessen und Kälte. Im Schweigen liebt man am glücklichsten. Oft ersticken Lärm und Worte das innere Feuer.“

Während der Wind mit dem Sand spielte, lag ich grübelnd da und fragte mich: Was ist meine Wüste? Erfolglosigkeit? Krankheit? Einsamkeit? Trostlose Dürre des religiösen Lebens? Depression? Angst vor dem Morgen?

Niemandem wird der Weg durch die Wüste erspart. Jeder muss bereit sein, sich in seiner Wüste aufzuhalten. Wer die Gunst des Schicksals sucht, seinen frischen Gnadentau, muss auch die Tränen der Wüste ertragen!

Endlich schlief ich ein, in dieser so einsamen Nacht. Unruhig zwar, hatten sich doch die Worte des Targi in mein Hirn gegraben: „Siehst du den Aasgeier da, im Sand auf einem toten Menschen, dann rufe: Weg, du, von meiner Leiche!“

Im noch nächtlichen Morgen weckte mich das Trällern einer Wüstenlerche. Hoffnung heißt der Vogel, welcher singt, wenn die Nacht noch dunkel ist. Das Lied klang nach Zuversicht, und es sagte mir: Sei unverzagt, du wirst ihn finden, den Weg aus deiner Wüste!

 

Wolf Cropp