Im Land unter dem Hindukusch
Kandahar
Meine erste Afghanistanreise führte mich in den Süden, in die Oase Kandahar. Ein Ort von Trampelpfaden und Kamelspuren durchzogen, auf denen sich jetzt Fahrzeuge aller Art in Staub hüllten. Die teils verfallenen, teils zerschossenen Lehmbauten sahen aus, als stammten sie noch aus der Zeit von Darius, dem Perserkönig. Scheu schlich ich an Hauswänden entlang, auf der Suche nach einer Unterkunft.

Masrullah, der Falkner in Kandahar.
Masrullah, der den Beruf des Falkners mit dem des Kaufmanns verband, war eine ungemein distinguierte Erscheinung. Er ging nicht, er schritt. Seine Gebärden waren würdevoll, was Turban und wallender Kaftan unterstrichen. Sein Blick war stolz, fast hochmütig. Vor einigen Tagen hatte er ein Geschäft mit Krücken, Prothesen und Gehwagen eröffnet. Für versehrte Einwohner. Der Afghane lud mich zu einer Tasse Chai ein und beschaffte mir auch eine Unterkunft. Sein Sohn wurde bei der Einnahme von Kandahar von einem Schrapnell getötet. Sorry, Kollateralschaden, sagten ihm die Amerikaner.
Dann begegnete ich in der Oase dem Deutsch-Afghanen Yakop Harum, einem Bauingenieur, der eigens aus Hamburg in sein Heimatland gereist war, um zu helfen. Er war in Vorbereitungen, eine Brücke über den Arghandab zu bauen. Bei der Inspektion des Geländes trat er auf eine vergrabene Mine und verlor sein rechtes Bein. Harum wollte helfen und war jetzt hilfebedürftig. Was für eine Welt? Was für eine himmelschreiende Ungerechtigkeit!
Ich verließ das Land mit dem Gefühl der Verwirrung. Als ich kam, war alles klar geordnet: hier der Feind, dort der Freund. Hier Niederlage, dort Sieg. Hier Vergangenheit, dort Zukunft. Jetzt war alles in Aufruhr: Wo war der Feind? Wo der Freund? Wo die Niederlage? Wo der Sieg? Und wo war die Zukunft?

Autor (l). mit seinem Sohn in Kabul.
Treffpunkt Kabul
Auf der zweiten Reise in das Land unter dem Hindukusch traf ich meinen Sohn Marc im Camp Warehouse, nahe Kabul. Als Hauptmann war er mit seiner Kompanie für vier Monate in Afghanistan stationiert. Und ich bekam als akkreditierter Journalist Einblick in die Mission der ISAF (International Security Assistance Force), begleitete Erkundungsfahrten ins Umland und war auf Tag- und Nacht-Patrouillen dabei.
In Bamian wurde ich eines schlimmen Kultur- und Kunstfrevels gewahr. Die Taliban hatten die weltgrößten, in Fels gemeißelten Buddha-Statuen zerstört. Zurückgeblieben waren Löcher wie leere, aufrecht stehende Riesensärge. Welch eine Schande! Orte, an denen Kulturdenkmale fehlen, sind wie Menschen, die ihr Gedächtnis verlieren.
Am letzten Tag meiner Reise durch das geschundene Land war ich in Kabul mit Marc noch einmal auf den Hügel gefahren, auf dem das zerbombte Mausoleum von Mohammed Nadir Schah (Afghanistans König bis 1933) thront. Schweigend lehnten wir am Jeep und schauten über die Stadt. Marc und ich, wir standen stumm da und betrachteten die friedliche Welt. Friedlich? Trügerisch friedlich – wären fremde Mächte sonst hier?

Wache am berüchtigten Khyberpass zwischen Pakistan und Afghanistan
Ich ergriff Notizblock und Stift und begann zu schreiben: Trete ich schon die Heimreise an? Ich lasse Sand und Wüste zurück, Gebirge Täler und Gipfel. Ich vergesse Kandahar, Bamian, Kabul, die geheimnisvolle Fremde … In der letzten Stunde des alten Tages, im kühlen Abendwind, ergreift mich immer aufs Neue die Traurigkeit des Aufbruchs: eine ins Ferne und Abenteuerliche verbannte Existenz? Mit dem Blick auf das zerstörte Kabul denke ich an verlorene Freunde und die Erinnerung daran verursacht in mir ein Gefühl von Übelkeit und Leere. Bevor ich nach Afghanistan ging, glaubte ich einem Abenteuer, einer Sehnsucht folgen zu müssen, um einen weißen Fleck auf meiner Landkarte verständlich zu machen …
Ein weiser Tischler
Marc beugte sich herüber und fragte auf einmal: „Du hast nun einiges vom Land gesehen und so manche Meinung gehört. Was hältst Du von unserem Einsatz hier?“ Nachdenklich unterbrach ich meine Notizen. „Ihr habt eine wichtige Aufgabe und sorgt für Ruhe und Stabilität. Noch würden die unterschiedlichen Ethnien übereinander herfallen, sich und andere Staaten in den Abgrund reißen. Mit Hilfe der westlichen Weltgemeinschaft wird Afghanistan gewiss in eine geordnete Demokratie geführt.“ (Wie sehr habe ich mich, haben sich alle Beteiligten doch getäuscht! Seit August 2021 steht das Land wieder unter der Kontrolle radikaler Taliban.)
Nach einer Weile meinte Marc: „Hatte ich Dir von Mohammad, dem Tischler, berichtet?“ – „Dem das Trottoire als Werkstatt dient? Ja, hast du.“ – „Wir wollen ihn besuchen. Er möchte dich kennenlernen“.
Unten im Ort, in der Straße der Handwerker, räumte der Tischler flugs ein Plätzchen auf dem Bürgersteig frei. Während er mit uns Tee trank, drechselte er Staketen für eine Treppe. Wie ein Jongleur hielt er mit den Zehen das Stecheisen am Rundholz und drehte das Holz, eingespannt in eine Bogensehne. Ich glaube, eine solche Hand-Fuß-Fräse wurde in der Bronzezeit erfunden. Mohammad beherrschte das Handwerk meisterhaft. Nach dem dritten gedrechselten Stab erzählte ich ihm etwas von Kopier- und CNC gesteuerten Fräsen, die pro Minute Zigtausend Stäbe in allen erdenklichen Formen herstellen. Doch Mohammad lächelte nur verlegen und fragte, ob ich die Geschichte des blinden Raschiid kenne. Ich verneinte.
Und er berichtete: „In der Oase Divalak lebte einst ein blinder Mann namens Raschiid, der sehr glücklich verheiratet war – allerdings mit einer besonders hässlichen Frau. Eines Tages erschien in der Oase ein Wunderheiler, der anbot, den Mann von seiner Blindheit zu befreien. Die Dorfältesten trafen sich, um über die Angelegenheit zu beraten. Schließlich stimmte man dafür, Raschiid heilen zu lassen. Hinten im Raum der Versammelten regte sich plötzlich Widerspruch. „Bedenkt Folgendes, ehrwürdige Dorfälteste“, sagte ein Männlein namens Nasruddi: „Was ist besser: sehen können oder glücklich sein?“ Also zog der Wunderheiler unverrichteter Dinge von dannen.“

Autor in Landeskleidung mit Pokol
Nach der Geschichte schaute mich der Tischler erwartungsvoll an. Ich nickte nur. „Ein treffendes Gleichnis – Industrie-Menschen denken in großen Stückzahlen“, versuchte mein Sohn mich zu entschuldigen.
Am nächsten Tag wurde ich zum Flugplatz gebracht. Auf dem Rollfeld verabschiedete ich mich von Marc und seinen Kameraden. Von Zuversicht durchdrungen, dachte ich an Afghanistans Zukunft in Frieden und Freiheit. Und das sagte ich den Soldaten. Sie sollten wissen, dass sie nicht umsonst fern in heißem Wüstensand einen gefährlichen Dienst versahen! Auf dem Weg zur Transall 160 konnte ich die kugelsichere Weste ausziehen …
(Längst wissen wir, wie kläglich die gut
gemeinte Mission gescheitert ist!)
Wolf-U. Cropp